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Karneval, Krise, Kreativität
Wenn aus einem Karnevalszug eine Friedensdemo wird
Die "Rodenkirchener Botterblömcher" haben Plakate für die Demo beschrieben: "Die Kinder haben selbst entschieden, welche Botschaften da drauf stehen sollen." Foto: Gabriele Dafft/LVR
"Brauchtumszonen" sollten dieses Jahr das jecke Treiben zurück auf die Straßen und in die Kneipen bringen. Unter besonderen Corona-Schutzmaßnahmen versteht sich. Nun kommt durch den Krieg in der Ukraine noch eine ganz andere Dynamik in die Karnevalsaktionen. Umzüge waren aufgrund der Pandemie ohnehin nicht gestattet. Es gibt also weder Strüßjer noch Bützchen am Zugweg und auch keine dichtgedrängte Menge, die mit prallgefüllten Kamellebüggeln darauf wartet, dat dr Prinz kütt. Stattdessen erklären sich aktuell viele Menschen solidarisch mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Statt Umzügen gibt es Protestaktionen. So auch Rosenmontag in Köln.
"Make Fastelovend Not War"
Dieser Kölner hat aus einem T-Shirt ein Spruchtransparent gemacht: "Die Päckchen daran sollen sagen, dass Frieden das größte Geschenk ist." Foto: Gabriele Dafft/LVR Gemeinschaftsgefühl nicht nur an Karneval: Diese beiden haben sich auf der Friedensdemo kennengelernt. Foto: Gabriele Dafft/LVR
Der Kölner Rosenmontagszug sollte ursprünglich pandemiebedingt im Rhein-Energie-Stadion in überschaubarer Form stattfinden. Am 24. Februar entschloss sich jedoch das Festkomitee aufgrund des beginnenden Kriegs, diese abgespeckte Version eines Umzugs abzusagen. Dafür organisierte man eine Friedensdemo unter dem Motto "Make Fastelovend not War" mit einer Kundgebung auf dem Chlodwigplatz und einem Protestmarsch entlang der Severinsstraße und durch die Innenstadt.
Viele werden sich unmittelbar an das Jahr 1991 erinnert fühlen, als der Rosenmontagszug aufgrund des Golfkriegs abgesagt wurde. Damals fand sich eine Gruppe Menschen, teilweise aus der alternativen Karnevalsszene, die den originalen Zugweg für eine spontane Demo nutzten. Traditionelle Karnevalisten gesellten sich dazu und man protestierte gemeinsam. Das war die Geburtsstunde des Kölner Geisterzugs, der sich inzwischen längst als alternativer Bestandteil des Karnevalsgeschehens in der Domstadt etabliert hat. Wenn nicht gerade Pandemie ist, findet dieser Geisterzug Karnevalssamstag auf wechselnden Zugwegen statt.
"Make FasteLOVEnd not War" ist das Motto der Demo und dieser drei Jecken. Foto: Gabriele Dafft/LVR Kostüme und Protestplakate prägten den Chlodwigplatz am Rosenmontag in Köln. Foto: Christian Baisch/LVR
Und heute? Rosenmontag 2022: Zur Demo nach Köln kamen rund 250 000 Menschen, um für den Frieden einzutreten. Die terminliche Überschneidung mit dem Kölner Karnevalsgeschehen und jahrelang eingeübte Rituale legten es nahe, das kaum einer der Demonstrierenden ohne Kostüm zu dieser Aktion kam. Viele der Demonstrant*innen integrierten die ukrainischen Landesfarben in ihre Verkleidung. Sei es mit blauen oder gelben Schaumstoffnasen, die an den Mund-Nasen-Schutz oder an die Narrenkappe geklemmt wurden oder mit einem eigens kreierten aufwändigen Kostüm. Mit Protestschildern oder Transparenten, den "klassischen" Kommunikationsmitteln bei Protesten, ergänzten vielen Teilnehmende ihr Erscheinungsbild. Die Schilder verkündeten Peace-Botschaften, Kritik an Wladimir Putin und Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Über 12 Standorte in der Stadt verteilt und am Neumarkt hatte das Festkomitee Persiflagewagen aufstellen lassen, die sich unter anderem kritisch mit der Situation in Russland und in der Ukraine auseinandersetzen.
Auch diese Demonstrantin hat die ukrainischen Farben in ihr Kostüm integriert. Foto: Gabriele Dafft/LVR Putinkritik in Form eines Persiflagewagens auf dem Kölner Neumarkt. Foto: Lisa Maubach/LVR
Das aktuelle Geschehen macht deutlich: Verbotene oder ausgefallene Umzüge sind längst nicht nur ein Phänomen der Pandemie. Über historische Beispiele schreibt mein Kollege Georg Mölich hier. Beschränkungen des Karnevals oder seiner einzelnen Elemente führten immer wieder zu Protestaktionen oder setzten kreative Energien frei. Auch in der Corona-Session 2021 ließen sich die Jecken pandemietaugliche Alternativen einfallen, um einen Hauch Karnevalsstimmung zu verbreiten: Auf Social Media kursierten Fotos und Videoclips von Spielzeugumzügen in Playmobilgröße und das berühmte Hänneschen-Theater brachte einen Puppenumzug auf die Bühne, der im TV übertragen wurde. Das Bonner Festkomitee rief dazu auf, aus Spielzeugfahrzeugen einen Umzugswagen zu kreieren. Aus den zugesendeten Clips schnitt man einen Film, Teilnehmende wurden mit einem Kamellebüggel belohnt.
Krisen – Motor für Innovationen
2021: Der Karneval und die Pandemie führen zu kreativen Karnevalsaktionen "zo Hus". Foto: Katrin Bauer/LVR 2022: Der Karneval und der Krieg machen aus dem Rosenmontagszug eine Friedensdemo. Foto: Gabriele Dafft/LVR
Die genannten Bespiele und vor allem die Ereignisse in diesem Jahr belegen: Wenn der Karneval von Krisen betroffen ist, zeigt er sich anschlussfähig für neue Ideen und Formen. Er kann auf gesellschaftliche Veränderungen regieren und ist damit auch immer Spiegel der Gesellschaft. Er findet nicht in einem Vakuum statt, sondern reagiert auf das Zeitgeschehen. Dabei zeigt er sich immer wieder von seiner gesellschaftskritischen Seite. Diese Wandlungsfähigkeit des Karnevals ist das Geheimnis seines Erfolgs: Denn so kann sich Karneval mit all seinen Traditionen immer wieder zeitgemäß gestalten. Er erstarrt nicht im Traditionellen, sondern bleibt lebendig. Und wenn es den Jecken zu bunt wird, geben sie sich durchaus widerständig. Dann nutzen sie den Karneval - beziehungsweise seine karnevalesken Elemente - um zu intervenieren. Die Protestaktion am Rosenmontag 2022 ist ein eindrückliches Beispiel dafür.
Als Krise des Karnevals - in einem ganz anderen Sinne - lässt sich übrigens auch die Zeit in den 1980er Jahren deuten, als der Saalkarneval mit Sitzungen und Büttenreden auf einige Menschen zu konventionell und leicht angestaubt wirkte. Die Kölner Stunksitzung setzte ab 1984 einen Akzent dagegen, persiflierte den klassischen Sitzungskarneval und karikierte die Kölner Stadtgesellschaft. Längst hat auch sie sich als alternative Sitzung ihren Platz im Sessions-Kalender erobert.
Aus dem Zusammenspiel von Karneval, Krise und Kreativität entstehen immer wieder neue Elemente, die den Brauchkomplex Karneval ergänzen, ihn modifizieren. Zum Teil erfüllen diese neuen Formen auch neue Funktionen, wie das Beispiel des Kölner Geisterzuges zeigt, der noch immer Charakterzüge der Protestkultur integriert. Welche Aktionen, sich weiterhin auf Basis der aktuellen Situation entwickeln, werden die Kulturanthropologinnen des ILR beobachten und einordnen.
Nicht nur der Karneval auch andere Bräuche erweisen sich prinzipiell als flexibel und können umgestaltet werden. Wir sind in der Lage sie unseren Bedürfnissen und veränderten äußeren Rahmenbedingungen anzupassen. Feste und Bräuche strukturieren unseren Alltag, sie geben uns Orientierung und stiften Gemeinschaft. Das ist in Krisenzeiten umso wichtiger, daher streichen die Menschen im Rheinland ihre Rituale nur äußerst ungern aus dem Kalender oder aus der persönlichen Biographie. Sie zeigen sich erfinderisch bei der Suche nach neuen Formen. Krisen können also ein starker Motor für Innovationen sein. Wie das in anderen Bräuchen aussieht, können Sie in vielen Beiträgen unserer Rubrik „Alltag in der Krise“ nachlesen.
Hinweis der Redaktion: Der Beitrag wurde aufgrund der Situation in der Ukraine mehrfach überarbeitet. Mögliche Unstimmigkeiten bitten wir zu entschuldigen! Wir werden unsere Beobachtungen vom Rosenmontag in Köln noch an anderer Stelle veröffentlichen.
Text: Gabriele Dafft