LVR-Institut für Landeskunde
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St. Martin light

Oder wie die Corona-Pandemie den Martinsbrauch 2020 in Bonn veränderte

„[I]ch war aufgestanden um irgendetwas aus meinem Arbeitszimmer zu holen. Plötzlich habe ich Pferdegetrappel von der Straße aus gehört und habe mir gedacht 'Häh, komisch, ein Pferd? Das hört sich an wie ein Pferd!'. Dann habe ich aus dem Fenster geguckt und gesehen, dass St. Martin mit Mantel und Helm auf einem Pferd vorbeireitet und einer Passantin auf der Straße zuwinkt. Es war so ein bisschen unwirklich [...] und ich habe mich echt gefreut, weil es eine zufällige Begegnung war. […] Dann habe ich überlegt 'Ja, hat der St. Martin jetzt ein Ziel?' […] Aber vielleicht reitet er jetzt auch wirklich einfach nur so durch die Straße und wer ihn sieht, hat eine Freude dran und das war es jedenfalls was es mit mir gemacht hat.“

St. Martin, alleine ohne einen großen Umzug auf der Straße. Diese unerwartete Begegnung hatte eine Bonnerin einige Tage vor dem Martinsabend im Jahr 2020. Normalerweise ist die Zeit zwischen dem 1. und dem 11. November geprägt durch Besuche von Martinsdarsteller*innen in Schulen, Kitas und Seniorenheimen. Außerdem werden Laternen gebastelt und die Bäckereien bieten Weckmänner an. Viele Kinder freuen sich auf die Martinsumzüge, das Martinsfeuer sowie das Schnörzen. All dies gehört zum Martinsbrauch dazu.

Doch 2020 war vieles anders als gewöhnlich. Seit Beginn der Corona-Pandemie haben sich viele unserer vertrauten Alltagsroutinen verändert. Grund dafür waren die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Dies betraf auch Bräuche und Traditionen, die sonst jährlich zelebriert werden. So führte der Lockdown light, der am 2. November in Kraft trat, endgültig dazu, dass der Martinsbrauch nicht wie gewohnt sowie in einer großen Gemeinschaft ablaufen konnte. Doch welche neuen Wege und Möglichkeiten fanden die Bonner*innen, um den Martinsbrauch trotzdem coronakonform stattfinden zu lassen?

Aktion „Laternen Fenster“

Martinslaterne in Fenster eines Wohnraums vor dunkler Außenansicht Selbstgebastelte Laternen dürfen zu St. Martin nicht fehlen. Doch was machen diese Martinslaternen im Fenster?

Dahinter steht die Idee einer Familie aus Süddeutschland, die über Facebook dazu aufrief selbstgebastelte Martinslaternen in die Fenster zu hängen. Auf diese Weise sollte vor allem für die Kinder, die auf die Martinsumzüge verzichten mussten, eine St. Martinsatmosphäre erzeugt werden. So konnten die Laternen, die fester Bestandteil des Brauchs sind, trotzdem gezeigt werden.

Auch in Bonn haben Bewohner*innen ihre Fenster mit Laternen dekoriert. „Ja ich habe da auch mitgemacht. Ich habe die alten Laternen von meinen Kindern in das Fenster gestellt, für die anderen Kinder draußen. […] Die Aktion fand ich super“, so eine Bonnerin. Haben auch Sie Martinslaternen in den Fenstern in Bonn gesehen oder sogar selbst welche aufgehängt?

Die Nutzung des Fensters stellt hier einen alternativen Weg der Brauchausübung dar. Grundsätzlich verbinden Fenster das Draußen mit dem Drinnen, den Wohnraum mit der Straße, das Zuhause mit der Stadt. Sie sind eine Schnittstelle zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum und können daher als „Übergangsraum“ bezeichnet werden. Über die Fenster als Kommunikationsmedium gelangen Botschaften von drinnen nach draußen. Vielleicht erinnern Sie sich auch an die Regenbögen, die zu Beginn der Pandemie in vielen Fenstern zu sehen waren. Genauso wird bei der Aktion „Laternen Fenster“ über das Symbol der Martinslaterne eine Botschaft für andere nach draußen gesendet. Auch mit Abstand konnte so ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden.

„...aber der St. Martin war trotzdem da“

Holzfigur mit Martinslaterne, sie trägt einen Mund-Nasen-Schutz. Haben Sie selbst als Kind den Martinsbrauch miterlebt? Können Sie sich den Brauch auf Abstand, ohne Gesang und mit einer Alltagsmaske vorstellen?

Die anfangs beschriebene unerwartete Begegnung zeigt, dass auch für die Martinsdarsteller*innen einiges anders abgelaufen ist als üblich. Ein Bonner Martinsdarsteller berichtete mir von seinen persönlichen Erfahrungen, die er bei den Besuchen in Kitas und Grundschulen machte. Dabei stellte sich heraus, dass mit Kreativität ein Besuch des Martinsdarstellers unter den Hygienemaßnahmen gestaltet werden konnte:

„Genau, dann hatte ich zum Beispiel eine Kita, da war das ganz clever gemacht. Die hatten im Erdgeschoss ein großes Fenster. Ich stand praktisch draußen und die haben das Fenster aufgemacht und die Kinder saßen alle drinnen im Haus. Und da haben die für mich auch die St. Martinsgeschichte aufgeführt und ich bin so im Endeffekt gar nicht mit den Kindern in Kontakt gekommen.“

Es stimmte den Martinsdarsteller traurig, dass er durch die Alltagsmasken und den Abstand die Mimik der Kinder nicht richtig wahrnehmen konnte. Doch die „strahlenden Augen“ der Kinder waren für ihn trotzdem, „ein super schönes Feedback“.

Die Kita musste eine Möglichkeit für die Begegnung auf Abstand finden. Die Wahl fiel auf ein großes Fenster. Hier zeigt sich, dass erneut ein Fenster eine wichtige Rolle spielte. Es wurde im geöffneten Zustand zum Begegnungsraum für die Kinder und den Martinsdarsteller. Der notwendige Abstand entstand hier durch die räumliche Trennung. Aber gerade dadurch konnten die Kinder und der Martinsdarsteller gemeinsam den Brauch in abgewandelter Form erleben. Trotz physischer Distanz konnte ein Gefühl der sozialen Nähen entstehen.

Grundsätzlich mussten an jedem Auftrittsort individuelle Konzepte entwickelt werden. Trotz dieser Herausforderungen ist es einigen Einrichtungen gelungen kreative Lösungen zu finden, um solche Begegnungsräume zu schaffen. „Es war St. Martin light, aber der St. Martin war trotzdem da und es hat glaube ich trotzdem Spaß gemacht für die Kinder. Genau, und ich glaube zusammen haben wir das ganz gut hingekriegt“, fasste der Martinsdarsteller abschließend zusammen.

Am Martinsabend wird gesungen

Weckmann in einer Tüte Eine Bonnerin kaufte sich diesen Weckmann am Martinstag, „um so ein bisschen St. Martinsfeeling zu haben“. Foto: mit freundlicher Genehmigung der Gesprächspartnerin

Nicht nur Fenster, auch Balkone haben im pandemischen Alltag eine neue Funktion bekommen. Sie wurden mitunter zur Bühne für Konzerte. So berichtete mir eine Bonnerin, dass sie auf die Idee gekommen war, am Martinsabend das nachbarschaftliche Balkonsingen aus dem Frühjahr noch einmal aufleben zu lassen:

„[U]nd dann hatten die [Kinder] ihre Laternen auf dem Balkon und ein Nachbar hat dann noch Trompete gespielt dazu, sodass ein bisschen Martinsstimmung aufkam […] Und das fand ich auch schön, dass die Kinder jetzt nicht das Gefühl hatten, dass sie die Laternen nur für ihre Kinderzimmer gebastelt haben, sondern dass sie die einmal mit Liederuntermalung [zeigen] können.“

Auch die Bonner Kirchen haben am 11. November um 18 Uhr zum gemeinsamen Singen auf Abstand aufgerufen. Familien sangen auf Balkonen, in Türrahmen oder aus den Fenstern die Martinslieder mit, die über das Domradio gesendet wurden. Dies war ein neuer Weg, um den Martinsabend auch ohne Umzug, auf Abstand und doch gemeinschaftlich zu gestalten. Der Martinsbrauch hat sich hier vom öffentlichen in den halböffentlichen Raum verschoben. Trotzdem haben viele den Martinsumzug vermisst.

Kreativität schafft neue Ideen und Möglichkeitsräume

Die Pandemie lässt die Menschen neue Wege im Alltag beschreiten und Routinen, wie z.B. Bräuche, neu denken. Hier kommt Kreativität ins Spiel. Gewohnte Denkstrukturen und Handlungsmuster werden aufgebrochen. Auf diese Weise entdecken wir in Räumen, denen wir normalerweise im Alltag wenig Beachtung schenken, neue Möglichkeiten. Die Bonner*innen nutzten z.B. Türrahmen, Fenster und Balkone als Bühne, auf der sie den Martinsbrauch gestalten konnten. All diese Übergangsräume boten die Möglichkeit für eine Begegnung auf Abstand. Gleichzeitig konnte mit gemeinsamen Praktiken, wie dem Singen oder der Aktion „Laternen Fenster“ ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden. So entstand ein Gefühl von Nähe, aber auf Abstand. Übergangsräume werden nun zu Begegnungsräumen, Konzertbühnen, Räume für Praktiken der Vergemeinschaftung, kurz: zu Möglichkeitsräumen.

Welche dieser neuen kreativen Wege auch in Zukunft beibehalten werden, wird sich zeigen. So sieht eine Bonnerin die Corona-Krise als eine große Chance, um aus den gewohnten Bahnen auszubrechen und „neuen Ideen Raum zu geben“, denn „da gibt es ja ganz viele tolle Lösungen und Aktionen und das finde ich prima“[…] und dass da auch einfach andere tolle neue Sachen entstehen und Platz haben. Das ist meine Hoffnung [...], dass uns da auch was Gutes rauskommt aus diesem Jahr.“.

Michaela Ressing

Mitmachen: Wie sieht Ihr Pandemie-Alltag in Bonn aus?

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts Bonndemic - Pandemischer Alltag in Bonn an der Abteilung Kulturanthropologie der Universität Bonn. Das LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte kooperiert in Rahmen dieses Projektes mit der Universität. Wenn Sie Lust haben, den Kolleg*innen von Ihrem Alltag in Bonn während der Pandemie zu erzählen, finden Sie hier weitere Informationen und Kontaktdaten.

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