LVR-Institut für Landeskunde
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Corona-Singen

Eine musikalische Verabredung im Veedel

Bereits mit Beginn der ersten behördlichen Corona-Verordnungen, den Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln wurden in meinem Veedel vielfältige Aktivitäten sichtbar, die auf unterschiedliche Weise Solidarität vermitteln und Gemeinschaft stiften wollen. Eine konkrete und sehr alltagspraktische Form des Zusammenhalts äußert sich zum Beispiel im Engagement zumeist jüngerer Menschen, die Hilfebedürftigen anbieten, Einkäufe und Apothekengänge zu erledigen oder mit dem Hund Gassi zu gehen.

Aushang an einer Glastür, der Text bietet Hilfe bei Alltagserledigungen für Menschen an, die der „Risikogruppe“ angehören. Alltagspraktische Solidarität: Hilfe beim Einkaufen und anderen Erledigungen. Flyer mit Noten und Liedtext, dahinter einige Sänger*innen vor einem Wohnhaus Performative Solidarität: Gemeinsam Singen gegen die Isolation.

Diese Veedelshelfer*innen wenden sich zumeist über Aushänge an Haustüren oder beispielsweise beim örtlichen Bäcker an die unmittelbare Nachbarschaft, nennen ihren Namen und ihre Telefonnummer, treten dadurch aus der urbanen Anonymität heraus und stellen Kontakt zu anderen her. Sie möchten sich für diejenigen einsetzen, die zur sogenannten Risikogruppe gehören und das öffentliche Leben aufgrund der Ansteckungsgefahr eher meiden sollen. Zwar gehören nicht nur ältere Menschen zu dieser Gruppe, dennoch zeigt sich hier vor allem eine intergenerationelle Vergemeinschaftung im Viertel. Die Solidarität, die in diesen Hilfsgesten zum Ausdruck kommt, hat eher fürsorglichen Charakter, sie dient der Versorgung mit notwendigen Dingen des täglichen Lebens. Performativen, kreativen Charakter haben dagegen Aktionen, die unter dem Stichwort „Corona-Singen“ in verschieden Orten im Rheinland veranstaltet werden. Solche Aktionen stellen Solidarität über gemeinsames Handeln her.

Vorbilder für die Gesangseinlagen kommen aus Italien, von wo aus sich Mitte März Videos in sozialen Netzwerken und über TV-Beiträge verbreiteten. Bewohner*innen von Städten wie Rom, Neapel oder Turin aber auch kleineren Orten, stellten sich auf ihre Balkone und an geöffnete Fenster, stimmten gemeinsam Lieder an oder spielten Instrumente. Über Straßenzüge und Plätze hinweg hörten sich die Menschen singen, musizierten gemeinsam und schafften es so, die soziale Distanz während der strikten italienischen Quarantänemaßnahmen zumindest für einen Augenblick zu vergessen und symbolisch zu überwinden.

Flyer mit Noten an einer Haustür, ein Text lädt zum Singen in der Nachbarschaft ein. Flyer entlang der Haustüren … Flyer mit Noten an einer Haustür´. … laden zum Nachbarschaftssingen ein.

„Um mal einige andere nette Gesichter zu sehen“

Auch in einem Straßenabschnitt in der Bonner Südstadt hat sich eine lose Gruppe gefunden, die sich über einen Zeitraum von sechs Wochen jeweils am Freitagabend informell zum Singen trifft. Ob stimmgewaltig und textsicher oder eher leise und verhalten, ob aktiv beteiligt oder freundlich beobachtend, ist egal. Das musikalische Talent spielt hier eine untergeordnete Rolle, viel wichtiger ist das Gemeinschaftserlebnis. Oder wie es auf einem der wöchentlich wechselnden Aushänge zur Aktion heißt: „Hauptsache ihr seid dabei und wir zaubern uns gegenseitig ein Lächeln ins Gesicht“.

Die Gruppe der Sängerinnen und Sänger ist fluid, das heißt, sie setzt sich bis auf einen harten Kern immer wieder anders zusammen und es sind nicht nur unmittelbare Anwohner*innen, die sich beteiligen. Einmal bleibt zum Beispiel eine Radfahrerin mit ihren zwei Kindern spontan stehen und fragt: „Können wir mitsingen?“, beim nächsten Mal bekommt ein flanierendes Pärchen ein Notenblatt in die Hand und lässt sich auf einen Song ein oder ein Jogger läuft durch das musikalische Spalier und bewegt die Arme wie ein Dirigent zum Takt des Liedes. Die Möglichkeiten mitzumachen sind also vielfältig und sogar eine Trompetenspielerin erscheint an einem Abend zu der musikalischen Verabredung. Die Kerngruppe ist immer dabei, ein junger Mann und eine junge Frau, die auch die Einsätze zum Singen geben und Flyer zur Aktion vorbereiten sowie deren unmittelbare Nachbarn. Die lose Runde versammelt sich immer freitags gegen 19 Uhr. Eine Ausnahme war der Karfreitag. Wegen des stillen Feiertags wurde die musikalische Aktion auf den Donnerstag vorverlegt. Zur angekündigten Uhrzeit öffnen sich Fenster und Türen, Bewohner anderer Straßenzüge trudeln ein, die Beteiligten singen von Treppenabsätzen vor den Hauseingängen, auf dem Gehweg und manchmal auch am Straßenrand, wo der Scheibenwischer eines geparkten Autos schnell zum improvisierten Notenständer werden kann. Vorbeikommende Passant*innen, Rad- oder auch Autofahrer*innen nehmen das Geschehen wahr, bleiben lächelnd stehen.

Der Appell für die „Gemeinsame Sing- und Musizieraktion“ wird über Zettelaushänge kommuniziert, die schon am Donnerstag außen an den Eingangstüren entlang eines etwa 80 Meter langen Straßenabschnitts hängen. Sie können prinzipiell von allen Vorbeigehenden wahrgenommen werden und nicht nur von den Bewohner*innen der Häuser. Die Aushänge umfassen einen kleinen Text, der die Aktion erklärt und von Woche zu Woche variiert, so dass auch eine Entwicklung angedeutet wird. Beim ersten Appell wurde beispielsweise zusätzlich darauf hingewiesen, dass man sich an die „gegebenen Sicherheitsbestimmungen“ halten wolle und die „Einhaltung eines Abstandes von 2 Metern“ wichtig sei. Der Flyer zum „vorerst letzten Mal“ am 9. Mai – also kurz vor den angekündigten Lockerungen der Corona-Maßnahmen – bedankt sich bei allen Beteiligten und resümiert „Die Aktion ist noch viel schöner und stimmungsvoller gewesen, als wir es uns vorgestellt hatten“.

Liedtext „99 Luftballons“ mit einer Ballon-Zeichnung, im Hintergrund singen ein Mann und eine Frau. Das Musikrepertoire ist breit gefächert, ein „Neue Deutsche Welle“-Klassiker ist auch dabei. Hinter dem Scheibenwischer an der Heckscheibe eines Autos ist ein Notenblatt geklemmt. Wenn der Scheibenwischer zum improvisierten Notenständer wird.

Von 99 Luftballons, freien Gedanken und Frühlingsgefühlen

Hauptteil des Flyers sind drei bis vier Lieder mit Text und meistens auch mit Noten. Das musikalische Repertoire wechselt von Woche zu Woche und ist breitgefächert: Volkslieder, Popsongs, Neue Deutsche Welle, Country und mit „Von guten Mächten“ sogar ein Lied aus dem kirchlichen Spektrum. Hinter der bunten Mischung der Lieder steckt aber keine Beliebigkeit, vielmehr scheinen einige Songtexte ausgewählt worden zu sein, weil sie sich in irgendeiner Weise auf die verstärkte soziale Zurückgezogenheit und das eingeschränkte gesellschaftliche Leben beziehen: Mal augenzwinkernd („Probier‘s mal mit Gemütlichkeit“), mal melancholisch. Dass solche Anspielungen einigen Beteiligten durchaus auffallen, zeigt sich zum Beispiel, wenn sie beim Song „Lemon Tree“, an der Textstelle „Isolation is not good for me“ ins Schmunzeln geraten. „Die Gedanken sind frei“, immerhin das, mag der oder andere bei dem Lied denken, wo ich doch derzeit immer in meiner Bude hocken muss. Auch „Über den Wolken“ spielt mit dem Motiv der Freiheit, während andere Beiträge einfach den Frühlingbeginn und das schöne Wetter aufgreifen: „Der Mai ist gekommen“ oder „Jetzt fängt das schöne Frühjahr an“. Bei der Premiere der Aktion wurde das Veedellied der Black Fööss angestimmt, das wegen seines Textes und seiner Popularität besonders gut geeignet ist den solidarischen, nachbarschaftlichen Charakter der Aktion zu unterstreichen.

Zum Abschluss steht jedes Mal „Der Mond ist aufgegangen“ auf dem Programm. Ein wenig irritierend, weil das Treffen bei weitem nicht bis zum Einbruch der Nacht dauert, aber vermutlich haben die Organisator*innen das Lied auch nicht nur ausgesucht, um einen Schlusspunkt zu setzen, sondern um noch einmal den Solidaritätsgedanken hervorzuheben. Nach einer passenden Textstelle muss man allerdings bis zur letzten Strophe warten, dort heißt es dann: „… und lass und ruhig schlafen und unseren kranken Nachbarn auch“. Die Passage ist auf dem Flyer unterstrichen und erinnert an diejenigen in der Viertelgemeinschaft, denen es gesundheitlich schlechter geht.

Neues Gemeinschaftsritual zum Wochenende

Hinter dem Nachbarschaftssingen steckt der Wunsch nach gemeinschaftlichen Erleben, und Abwechslung in Zeiten des heruntergefahrenen gesellschaftlichen Lebens. Die ungewollte Isolation soll durchbrochen, der eintöniger als sonst erlebte Alltag neu strukturiert und akzentuiert werden. Durch das Singen am Freitagabend entwickelt sich ein kleines Gemeinschaftsritual zum Einstieg ins Wochenende. Die Teilnahme wird zur liebgewordenen Gewohnheit, die Aktion von einigen Teilnehmenden fest eingeplant. Manche von ihnen verlängern das gesellige Ereignis und holen sich nach dem Singen an der Eckkneipe noch schnell ein Getränk to go, unterhalten sich noch ein wenig – bemüht die Abstandsregeln einzuhalten – und gehen dann nach Hause, oder wohin auch immer.

Auf dem Gehweg steht ein Mann und hält ein Notenblatt in der Hand, dahinter steht eine Person, die ein Glas Rotwein in der Hand hält. Abwechslung im Corona-Alltag: Beim Singen und manchmal auch bei einem Glas Wein auf der Straße Tafel mit Speise- und Getränkeangeboten to go. Mit einem kurzem Stopp an der Eckkneipe … Ein Pappbecher mit Strohhalm und eine Falsche Bier stehen auf einem Betonmäuerchen. Eine Hand greift nach der Flasche. … verlängert man die Nachbarschaftsaktion bei einem Getränk to go.

Eine Viertelbewohnerin hat eher zufällig von der Aktion gehört und möchte sich beim nächsten Mal anschließen, obwohl ihr die Lieder eigentlich zu getragen, die meisten Songs für sie unbekannt sind. Aber wie gesagt – das Singen steht hier nicht im Mittelpunkt. „Man geht ja auch hin, um mal eine Abwechslung zu haben, Wenn jemand so etwas auf die Beine stellt, muss man das auch unterstützen“, sagt einer der Beteiligten. Es wird durchaus wertgeschätzt, dass Andere die Initiative ergriffen haben und wer sich etwas mehr einbringen möchte, kann über eine E-Mail Liedwünsche äußern. Eine Kontaktadresse ist ebenfalls auf dem Flyer zu finden. Das Nachbarschaftssingen bringt Menschen zusammen, die sich vorher nicht oder wenig kannten und nun Woche für Woche zumindest ein paar Worte wechseln und sich „Bis zum nächsten Mal“ verabschieden.

Die Corona-Pandemie bringt deutliche Beschränkungen und Unsicherheiten mit sich, wer sich bei Aktionen wie dem Corona-Singen engagiert, erobert sich ein kleines Stück Gestaltungspielraum zurück, erlebt sich als handlungsfähig und bekommt so den Eindruck, auf eine schwierige Situation einwirken zu können. Das ist ein Aspekt, den Psychologen mit „Selbstwirksamkeit“ bezeichnen. Die Sänger*innen, aber auf die Einkaufshelfer*innen suchen und finden neue Formen der Vergemeinschaftung. Damit werden sie nicht zum Spielball eines Virus mit den damit einhergehenden Beschränkungen und vergraben sich zu Hause, sondern zeigen sich aktiv. Das kann dazu beitragen, Ängste zu bewältigen und mit Verhältnissen klar zu kommen, die zunächst einmal neu und beunruhigend sind.

Singen tut gut und stiftet Gemeinschaft

Auch wenn die Nachbarschaftsaktion das Corona-Virus nicht wegsingen kann, sie sorgt in vielfältiger Weise für positive Erfahrungen und Gefühle. Singen als vermutlich älteste musikalische Ausdrucksform und als universelles menschliches Bedürfnis ist ohnehin besonders gut geeignet, die Gemeinschaft zu stärken. Zumal darüber auch Emotionen vermittelt und verarbeitet werden. Dafür kennen Ethnolog*innen und Volkskundler*innen zahlreiche Beispiele, der Verweis auf Fangesänge im Fußballstadion sei hier genannt. Darüber hinaus hat Singen eine positive Wirkung auf das individuelle Wohlbefinden. Studien aus der Psychologie, Medizin und Musikwissenschaft zur Folge ist Singen ein wahrer Stimmungsaufheller. Zumindest, wenn es freiwillig geschieht und nicht durch Zwang wie mitunter beim Vorsingen im Schulunterricht, wo jeder getroffene oder vielmehr nicht getroffene Ton dem harten Urteil der Lehrkraft unterliegt – aber ich will hier nicht abschweifen. Die positiven physiologischen und psychologischen Wirkungsweisen des Singens sind beispielsweise darauf zurückzuführen, dass Glückshormone ausgeschüttet und Stresshormone abgebaut werden. Es kurbelt den Kreislauf an, stabilisiert den Blutdruck und trägt zur Muskelentspannung bei – das alles sind Effekte, die unter anderem durch die veränderte Atmung entstehen.

„Wenn schiefe Töne das Virus vergraulen würden, hätten wir heute die Pandemie beseitigt“, scherzt einer der Anwohner nach dem Nachbarschaftssingen. Das klappt leider nicht. Aber gute Laune und gemeinschaftliches Miteinander, dafür haben die schiefen und die getroffenen Töne auf jeden Fall gereicht. Oder wie die Organisatoren sagen: „Ein Lichtblick in diesen schwierigen Zeiten“.

Quellen

Kaiser, Jochen: Singen in Gemeinschaft als ästhetische Kommunikation. Eine ethnographische Studie, Heidelberg 2017
https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/balkonkonzerte-in-italien-100.html
https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-italien-balkon-singen-1.4844929

Fotos: Gabriele Dafft / LVR