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In unserem Veedel
Neue Formen nachbarschaftlicher Vergemeinschaftung
In Köln und um Köln herum ist „Veedel“ die mundartliche Bezeichnung für ein Stadtviertel. Doch wer von seinem Wohnquartier als „mein“ oder „unser Veedel“ spricht, dem könnte die schlichte Übersetzung mit „Stadtteil“ zu kurz greifen, schwingt doch im „Veedel“ noch etwas Anderes mit: Eine emotionale Verbundenheit mit dem Wohnumfeld und eine Verortung in dessen soziale und kommunikative Gemeinschaft.
Veedels Kneipe to go. Bei schönem Wetter ist es hier voll, jetzt holt sich die Nachbarschaft ihr Essen nach Hause. Die Wirtin bringt manchmal auch ein Kaltgetränk bis an den Balkon. Anwohner*innen eines Straßenabschnitts verabreden sich seit mehreren Wochen zum Corona-Singen.
Darüber hinaus handelt es sich beim Veedel nicht unbedingt um einen exakt abgrenzbaren Teil eines Stadtgebiets, der auch offiziell so bezeichnet würde. Es ist vielmehr ein Wahrnehmungsraum, der sich durch Überschaubarkeit und Vertrautheit auszeichnet, in dem man Leute kennt – und sei es nur vom Sehen – wo man einkaufen geht, seine Stammkneipe oder sein Lieblingscafé hat und sich eingebunden fühlt. Nicht von ungefähr lautete das Motto der Kölner Karnevalssession 2020: „Et Hätz schleiht em Veedel“.
Blumenverkauf auf Vertrauensbasis. Wer mag, kann sich ein Sträußchen nehmen und das Geld in eine Kassenbox vor dem Laden werfen. Nachbarschaftshilfe beim Einkaufen oder Gassi gehen. Hier sogar viersprachig.
Dieser Identifikation mit dem Veedel hat die kölsche Mundartband Bläck Fööss ein musikalisches Denkmal gesetzt. Ihr „Veedellied“ mit der Textzeile „denn hier hält man zusammen, egal was auch passiert“ ist zur Veedelshymne schlechthin geworden. Darin mag eine gewisse Verklärung und Idealisierung stecken, womit das Veedel auch zum Sehnsuchtsort wird. Die Beliebtheit des Songs – seit 50 Jahren wird er nicht nur im Karneval inbrünstig mitgesungen – belegt jedoch, dass der Text den Nerv vieler Menschen in der Köln-Bonner-Region trifft. Ihre Bekenntnisse zum Veedel sind durchaus real, das spiegelt sich zum Beispiel in vielfältigen Veedelsinitiativen, in denen sich Menschen für ihr unmittelbares Umfeld engagieren.
Ein Teil des Erlöses aus dem Maskenverkauf geht an eine Jugend- und Senioreneinrichtung: Die Verkäuferin kann sogar Tipps zum richtigen Tragen geben: „Ich habe früher als Kinderkrankenschwester gearbeitet.“ Die Kita hält Kontakt zu ihren Schützlingen. Die Kinder bemalen zu Hause Steine und legen sie vor der Tür ab. Manchen Passanten gefallen die Steine wohl so gut, dass sie einen mitnehmen möchten.
In Zeiten von Corona gewinnt die emotionale und soziale Verortung im Veedel an Aktualität. Die globale gesundheitliche Bedrohung wirft viele Menschen zwangsläufig auf den lokalen Nahbereich zurück. Daher mag es umso tröstlicher sein, auf einen Gemeinschaftssinn im Veedel zu setzen – egal was auch passiert und sei es eine weltweite Pandemie. Entsprechend Konjunktur hat derzeit auch das „Veedellied“ der Bläck Fööss und so gehen Videos aus Kölner Vierteln viral, in denen Menschen aus den geöffneten Fenstern den Song singen und ein Zeichen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt setzen möchten. Neben diesen urbanen Gesangseinlagen von Privatpersonen gibt es auch professionelle Initiativen wie etwa eine Neuinterpretation des Veedellieds, die als musikalische Collage mit verschiedenen bekannten Musiker*innen von sich reden machte. Aus der Imagination eines Veedels als Ort der gegenseitigen Unterstützung werden durch solche gemeinschaftsstiftenden Aktionen Taten. Aus dem Sehnsuchtsort Veedel, wird ein Ort des konkreten solidarischen Handelns – und zwar nicht nur durch das gemeinsame Singen, sondern auch durch vielfältige andere Aktivitäten.
Corona-Singen im Veedel: „Damit wir uns gegenseitig ein Lächeln ins Gesicht zaubern“, sagt die Organisatorin. Anwohner mit Humor: „Ich brauche keine Therapie, ich spreche mit Pflanzen. Falls du keine Pflanze hast, dann nimm dir eine.“
Da allerlei Vorschriften den Bewegungsradius, die Erlebnismöglichkeiten und sozialen Kontakte einschränken, wird der Nahbereich des Veedels noch mehr als sonst zum Ankerpunkt des alltäglichen Lebens, so dass der Einzelne möglicherweise auch mehr Anlässe findet, im Veedel aktiv zu werden.
Wie gestaltet sich der Veedelalltag derzeit, welche (neuen) Formen nachbarschaftlicher Gemeinschaft gibt es? Das beobachte ich derzeit exemplarisch an einem Bonner Stadtteil. Denn Homeoffice, Social Distancing und Reisebeschränkungen legen auch mich räumlich stärker auf mein Wohnquartier, die Bonner Südstadt, fest und ermöglichen mir einen forschenden Blick auf das Umfeld. Erste Ergebnisse dieser Beobachtungen werden an dieser Stelle veröffentlicht werden. Dieser Beitrag wird in den nächsten Tagen immer wieder ergänzt.
Hier geht's zum Corona-Singen im Veedel .
Text: Gabriele Dafft
Fotos: Gabriele Dafft, © LVR-ILR