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Notizen aus einer strukturlosen Zeit und dem Zurückgewinnen neuer Strukturen
Strukturen bestimmen unseren Alltag. Wir schaffen sie uns meist unbewusst, ohne groß darüber nachzudenken, manchmal werden sie uns von außen vorgegeben, andere wählen wir selbst. Wir passen sie immer wieder an, optimieren sie, sie leiten uns, wir können ihnen folgen und uns auf sie verlassen. Wir müssen nicht entscheiden, ob und wann und wie. Das macht unser Leben einfacher. Die Strukturen sind von Handlungen begleitet, von Ritualen, die immer wiederkehren und gleich ablaufen.
Meine Arbeitswoche zum Beispiel hatte immer die gleichen Abläufe, die gleichen Rituale: Montag, Dienstag und Mittwoch klingelt der Wecker um kurz vor 6:00 Uhr. Die Kinder (3 und 1 Jahre) schlafen hoffentlich weiter, dann unter die Dusche, während die Kaffeemaschine läuft; das Butterbrot für den Kindergarten geschmiert und dann noch eins fürs Büro. Um 6:40 Uhr kommt meine Mutter, „übernimmt“ die Kinder, ich fahre meinen Mann an die Bushaltestelle und dann weiter ins Büro, und dann beginnt der Arbeitstag.
Auch nachmittags die ähnlichen Abläufe – Woche für Woche: Montagnachmittag mit den beiden Kindern zum Singen. Auch hier haben wir unsere kleinen Rituale: Erst kaufen wir beim Bäcker eine Brioche oder ein Croissant und schlendern dann gemütlich zum Singen, wo die anderen Kinder schon warten. Mittwochnachmittag gehen die Beiden mit meinem Mann turnen. Jeden Mittwoch der gleiche Ablauf: Die Kinder werden um 15:00 bei Oma und Opa von Papa eingesammelt (auch hier gibt es wahrscheinlich Rituale, wie das Eis nach dem Mittagessen oder die Pause in der Umkleidekabine). Donnerstagvormittag dann Krabbelgruppe mit der Kleinen und auch hier immer der gleiche Ablauf: Erst das Begrüßungslied, dann freies (!) Spielen, gefolgt von der gemeinsamen Frühstückspause und den Seifenblasen zum Abschluss. Danach gehen wir auf den Markt, hier gibt es ein Stück Käse vom Käsemann und mittags holen wir Luisa aus dem Kindergarten ab und machen Picknick an der Kapelle. Freitagnachmittag treffen wir uns meistens mit den Spielfreunden der Kinder. So läuft jede Woche sehr ähnlich ab. Im normalen Alltag ist uns das wenig bewusst und wir sind froh, nicht jeden Tag neu überlegen zu müssen. Nicht überlegen zu müssen wie der Alltag nun ausgestaltet werden soll, wie und mit was wir ihn füllen. In unserer Multioptionsgesellschaft, in der alles jederzeit erreichbar, möglich und machbar erscheint, sind diese Strukturen noch wichtiger. Denn ohne sie wären wir schnell überfordert. So anstrengend auch die strukturierte Woche ist und so sicher jeder von uns in Versuchung ist, den Wecker morgens einfach auszuschalten – genau diese Routinen sind es, auf die wir uns Verlassen können. Sie geben unserer Woche eine Struktur und mit dieser genießen wir umso mehr die Tage, die strukturlos(er) erscheinen, wie die Dienstage, an denen wir nachmittags machen können, was wir wollen. Nur dank dieser festen Wochenstruktur freuen wir uns auf das Wochenende, wo alles anders ist, die Routinen andere, vielleicht weniger starr und straff organisiert. Doch so anders sie im Vergleich zur Woche sind, so strukturiert erscheinen auch sie bei genauerem Hinsehen. Das Brötchenholen am Morgen, das gemeinsame Frühstück… .
Und dann das: Seit Freitag, dem 13. – passenderweise auch noch einem volkskundlich relevanten Tag – als die Landesregierung die Schließung von Schulen und KITAs ab Montag angekündigt hat, war unser Alltag, genauso wie der Alltag aller Menschen, mit einem Schlag weg. Jegliche Strukturen und Routinen mit einem Mal gestrichen. An diesem Freitag erahnte man, dass die nächsten Wochen anders würden. Anders als all das, was wir bisher kannten. Und noch niemals zuvor wurde uns allen so schmerzlich bewusst, welch essentielle Aufgabe Rituale übernehmen.
Katrin Bauer