LVR-Institut für Landeskunde
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Stein für Stein farbenfroher Zusammenhalt

Aneinandergelegte bemalte Steine, der erste ist mit einem lächelnden Schlangengesicht bemalt. Freundliche Schlange, der Beginn von „Willie Waldwurm“, Foto: Peter Weber Willi will wachsen, Foto: Peter Weber

Steinschlangen gesichtet! Seit ein paar Monaten verbreitet sich eine neue Spezies im Rheinland. Ihr Lebensraum sind Mauern, Parkanlagen oder sogar Gehwege mitten in der Innenstadt. Sie beißt nicht, sie zischt und züngelt nicht und sie verschwindet auch nicht schnell und scheu im Gebüsch, sobald Passanten sich ihr nähern. Einen gefährlichen Giftzahn hat sie schon mal gar nicht, im Gegenteil, sie freut sich über Beachtung und Gesellschaft und ihre Absichten sind ausgesprochen freundlich. Woran man sie erkennt? Keine gleicht der anderen, aber bunt ist sie immer. So wie diese Exemplare:

Bunt bemalte Steinen am Wegesrand Steinschlage in Neunkirchen-Seelscheid initiiert vom Kindergarten Pohlhausen, Foto: Charlotte Rein Bunt bemalte Steine auf Holzplanken, ein Schild macht auf die Aktion aufmerksam „Kleinbüllesheimer Steine“ verschönern die Brücke über den Erftmühlenbach“ in Euskirchen, Foto: Peter Weber.

Aneinandergereihte, individuell bemalte Steine treten seit dem Corona-Lockdown verstärkt im Rheinland auf. Die Steine werden nach und nach von Kindern, aber auch von Jugendlichen und Erwachsenen an bestimmten Orten abgelegt, so dass eine lange Reihe verzierter Objekte entsteht. Sie zeigen farbenfrohe Muster, Tiere, Comicfiguren, lustige Monstergesichter aber auch Sinnsprüche, Grüße oder Wünsche wie zum Beispiel: „Bleibt alle gesund“, „Wir vermissen euch!“ oder „Glück für alle“. Gelegentlich erklärt ein Schild, was hinter der steinigen Ansammlung steckt und fordert Spaziergänger auf, sich zu beteiligen.

Die Krise bringt ein neues Ritual hervor

Den Anstoß für solche Aktionen geben zum Beispiel Kitamitarbeiterinnen oder auch Privatpersonen. Die Steine schaffen eine symbolische Verbindung zwischen Menschen und repräsentieren soziale Nähe. Gerade in Zeiten eingeschränkter Kontakte und geschlossener Kitas infolge der Corona-Schutzmaßnahmen bieten sie eine Möglichkeit, Gemeinschaft zu erleben, ohne sich direkt zu begegnen. Schließlich müssen die Steine keine Abstandsregeln einhalten. Kinder oder auch die älteren Akteur*innen schaffen auf diese Weise etwas Gemeinsames, die aneinandergelegten Steine sind sichtbares Zeugnis des Zusammenhalts. Über dieses kleine Ritual kann eine Gruppe, die sich aktuell nicht sehen kann, miteinander in Kontakt bleiben, sich aneinander erinnern.

Schild mit einer Erklärung zur Steinschlange. Oft erklärt ein Schild die Aktion wie hier im Kölner Volksgarten, Foto: Christian Baisch Ansammlung bunter Steine Nicht immer muss es eine Reihe sein: Bunte Steinsammlung einer Bonner Kita, Foto: Gabriele Dafft

Steinschlangen werden aber nicht nur von festen Gruppen wie etwa Kitakindern oder einer Grundschulklasse gestaltet. Es gibt viele Varianten, an denen sich jeder, der davon erfährt, beteiligen kann. Auch bei diesen Steinsammlungen steht die Erfahrung von Gemeinschaft im Vordergrund. Die Akteur*innen signalisieren auf symbolischer Ebene: Wir sitzen im selben Boot, wir stehen zusammen.

Rezept gegen Lockdown-Langeweile

Neben diesen symbolischen Bedeutungen hat die Aktion auch ganz praktische Funktionen: Sie sorgt für Abwechslung und kreative Beschäftigung in Zeiten, in denen vielen andere Freizeitaktivitäten stark eingeschränkt sind. Wer sich an solchen Steinketten beteiligt, muss zunächst einen passenden Stein suchen, ihn dann nach eigenen Vorstellungen gestalten und schließlich an einem Ort ablegen. Darüber hinaus lässt sich bei dem ein oder anderen Spaziergang immer wieder aufs Neue entdecken, wie die Steinschlange wächst und welche Motive sich andere haben einfallen lassen. Das Bemalen, Ablegen und Finden der Steine ist also nicht nur ein kleines Ritual der Verbundenheit, sondern auch Rezept gegen die Corona-Langeweile. Spaß und Freude, Mut und Hoffnung soll es aber auch allen vermitteln, die nicht direkt beteiligt sind und die bunten Veränderungen zufällig in ihrem urbanen Umfeld entdecken oder sich beim Waldspaziergang davon überraschen lassen. Aufrufe, eine Steinschlange zu gestalten, starten oft im Internet über Social Media Gruppen. Liegen erst mal ein paar Steine dicht an dicht am Wegesrand, findet das Nachahmung durch Passant*innen und gelegentlich trägt auch die mediale Berichterstattung dazu bei, die jeweilige Aktion noch bekannter zu machen.

Warum ist das Ritual für so viele Menschen attraktiv?

Mehrere Steine, einer ist mit einer Sonne bemalt, andere zeigen Botschaften wie „Glaube, Liebe, Hoffnung“ Dicht an dicht, nur ein kleiner Ausschnitt der Kleinbüllesheimer Steine. Foto: Peter Weber Steinschlange mit vielen unterschiedlich bemalten Steinen Die Motivvielfalt ist groß, Steinschlange in Meckenheim, Foto: Katrin Bauer

Wieso etablierte sich die Steinschlange während der Pandemie so schnell? Mehrere Faktoren greifen ineinander. Die Steinschlangen kommen dem bereits angesprochenen Wunsch nach gemeinsamen Erleben sowie nach kreativer Beschäftigung nach, aber ebenso dem menschlichen Bedürfnis, sich zu verewigen, etwas Bleibendes zu hinterlassen. Gerade in Zeiten der sozialen Isolation und großer Verunsicherungen, die mit der weltweiten Corona-Situation einhergehen, werden diese Bedürfnisse umso wichtiger. Kleine Rituale bieten dann Halt und Orientierung. Dabei mag es auch eine Rolle spielen, dass viele Menschen den Spaziergang (neu) für sich entdeckt haben, ihr unmittelbares räumliches Umfeld ruhiger als sonst wahrnehmen und es plötzlich mit anderen Augen sehen. Die Steinschlangen sind dann eine Möglichkeit, sich diesen wiederentdeckten Raum kreativ anzueignen und den grauen Corona-Alltag etwas zu verschönern. Die Verortung der Aktion im konkreten Nahbereich stiftet zusätzlich Identität, vor allem wenn sich ein Lokalbezug im Namen der Steinschlange wiederfindet. Es sind nicht einfach x-beliebige Ansammlungen von Kieseln, sondern es ist die „Stammheimer Steinschlange“, die „Steinschlange an der Saaler Mühle“ oder es sind die „Kleinbüllesheimer Steine“, über die die Leute im Ort oder sogar die Medien reden. Ein weiterer Grund für die rasche Verbreitung der Steinschlangen: In der komplexen Krisensituation sind die bemalten Steine ein unkomplizierter Weg, all die genannten Bedürfnisse zu erfüllen.

Im innerstädtischen Gebiet liegen mehrere bunte Steinen entlang einer Gebäudemauer. Steinschlangen werden auch mitten in der Stadt gesichtet, wie hier in Bonn, Foto: Gabriele Dafft An einem Pfad entlang von Bäumen befinden sich bunt bemalte Stein und ein handgeschriebenes Schild, welches erklärt: „Diese Steine gehören zu einem Spiel“ Inzwischen auch im deutschsprachigen Ausland verbreitet, Steinschlange am Marlinger Waalweg bei Meran, Südtirol Foto: Gabriele Dafft

Einfache Mittel, große Wirkung

Das Material ist relativ leicht verfügbar, die Steine können individuell gestaltet werden, sie trotzen der Witterung, sind haltbar und nachhaltig – viele Initiatoren legen übrigens Wert darauf, dass umweltfreundliche Farben verwendet werden. Der Stein selbst steht symbolisch für das Verlässliche, Dauerhafte, Ewige. Auch wenn das bei dem einzelnen Akteur*innen nicht im Vordergrund steht, ist das Wissen um diese Symbolik kulturell vermittelt, es schwingt assoziativ im Hinterkopf mit. Dieses symbolische Quäntchen mehr an Stabilität kann im Krisendurcheinander schließlich nicht schaden.
Kein Wunder also, dass die Steinschlange sich seit dem Corona-Lockdown rasant vermehrt. Sie passte einfach gut zur aktuellen Situation sowie zu den individuellen und kollektiven Bedürfnissen.

Steinige Verwandte

Die Spezies der Steinschlange hat übrigens Vorläufer und Verwandte. Das Phänomen der „painted rocks“, der „Tramper Steine“ oder „Wandersteine“ ist schon seit längerem aus Nordamerika bekannt. Medienberichte lassen darauf schließen, dass es zuerst Nachahmung in Norddeutschland fand und sich dann in anderen Regionen wie eben auch im Rheinland verbreitete. Bei den Tramper Stones werden die bemalten Steine allerdings nicht zu Gesamtkunstwerken zusammengefügt, sondern einzeln oder in kleinsten Gruppen abgelegt: Etwa auf Trafokästen, in einem Gebüsch, auf Treppenabsätzen oder zwischen Pflastersteinen. Wer einen Stein findet, darf ihn behalten oder woanders ablegen. Auch hier lässt sich eine interessante Kombination von analoger Outdooraktion und digitaler Kommunikation beobachten: Auf Facebookseiten posten Entdecker die Fundstellen einzelner Steine, so dass deren Urheber*innen sich freuen können, dass ihr Werk gesichtet wurde. Auf diese Weise lässt sich sogar eine längere Reiseroute des ein oder anderen Kiesels nachvollziehen. Bei dieser Variante des Phänomens „bemalte Steine“ ist es ausdrücklich erlaubt, einen Stein mitzunehmen. So manche Steinschlangen appelliert dagegen auf einem Schild: „Bitte liegen lassen!“ Zu verlockend scheint es für einige Entdecker, ein steiniges Dekoobjekt zu stibitzen. Aber wenn doch mal jemand einen bemalten Kiesel einsteckt: Zubeißen würde die Steinschlange nie!

Gabriele Dafft

Sie haben auch eine Steinschlange im Rheinland entdeckt? Schicken Sie uns gerne ein Foto und den Fundort: rheinische-landeskunde@lvr.de