LVR-Institut für Landeskunde
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Abstand halten!

Rituale der Krise - Krisenrituale

Abstand halten in der Eisdiele ... Auf einem Weg entlang eines Flusse kommen sich zwei Läufer entgegen ... und bei Freizeitläufern am Rhein

Krisen bringen herkömmliche Ordnungen durcheinander und stellen vermeintliche Gewissheiten, gesellschaftliche Übereinkünfte und Routinen in Frage. Sie gehen mit einer Phase der Verunsicherung einher, weil sich jeder Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes neuorientieren muss, vieles ungewiss und bedrohlich erscheint. Gerade die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Verordnungen, Ratschläge und Einschränkungen wirken sich stark auf den Alltag aus. Durch „Social Distancing“ geraten Tages- und Arbeitsabläufe durcheinander, viele Routinen und Rituale, die unseren Alltag sonst strukturieren, greifen auf einmal nicht mehr. Das verunsichert umso mehr, weil es zum Sinn und Zweck ritualisierter Handlungen gehört, Verhaltenssicherheit zu geben und Stabilität zu vermitteln. Doch mit der Verunsicherung und „Unordnung“ des Alltags beginnt auch die Suche nach neuen Ritualen und Formen, um sich mit den veränderten Verhältnissen zu arrangieren und so zumindest wieder einen Hauch von Sicherheit und Orientierung zurückzugewinnen. Das kann sich in vielen alltäglichen Lebensbereichen zeigen - auch und gerade in kleinen, auf den ersten Blick unscheinbaren Handlungsmustern.

Unter Freizeitläufern gibt es zum Beispiel so ein Ritual: Wenn man sich begegnet, aufeinander zu und aneinander vorbeiläuft, hebt man flüchtig grüßend die Hand oder nickt sich zu: Das signalisiert: Man ist Teil einer Community, teilt dasselbe Interesse, fühlt sich verbunden. An stark frequentierten Laufstrecken – zum Bespiel dem Bonner Rheinufer bei Sonnenschein – findet dieses Ritual für gewöhnlich nicht statt. Ansonsten käme man ja bei rund zwei Dutzend Begegnungen pro halbstündiger Laufrunde aus dem Grüßen nicht mehr raus. Wie gesagt: „für gewöhnlich“. Doch die letzten Tage und Wochen zeichnen sich bekanntlich dadurch aus, dass im Alltag kaum mehr etwas „normal“ läuft. Und so scheint auch plötzlich das Grüßen am Rheinufer Konjunktur zu haben. Nicht etwa, weil sich im Zuge von #stayathome und #blievzohus kaum einer mehr vor die Tür traut und folglich nur noch eine übersichtliche Anzahl Frischluftgänger unterwegs wären, die plötzlich Muße fürs sporadische Grüßen hätten. Im Gegenteil: Es sind erstaunlich viele Jogger*innen unterwegs und auch der Spaziergang scheint eine Renaissance zu erleben. Eingeschränkte Möglichkeiten, sich im Alltag zu bewegen, veränderte Tagesabläufe durch Homeoffice, geschlossene Fitnessstudios oder das abgesagte Fußballtraining sind für viele Menschen Anlass, alternative Bewegungsroutinen in ihrem Alltag zu finden.

Aber was steckt nun hinter der erhöhten „Grüßfrequenz“ unter den Läufer*innen am Rhein? Dem Nicken oder Handheben geht in der Regel folgende Szene voraus: Wenn sich die Entgegenkommenden bereits auf einige Meter Entfernung sehen, wechselt einer von beiden deutlich sichtbar die Spur, weicht beispielsweise vom Asphaltweg auf den Trampelpfad daneben aus. Auch das Gegenüber verändert mitunter – gewissermaßen als Gegenleistung – seine Lauflinie ein wenig. Die Motivation für das Ausweichmanöver dürfte klar sein: Die Sportler*innen halten Distanz, sie wollen nicht verschwitzt und schweratmend in mittelbarer Nähe an jemandem vorbeihuschen. Schließlich gilt es, Ansteckungsrisiken zu minimieren.

HInweisschild in einem Restaurant Hinweisschild "Abstand halten" in einem Restaurant mit Abholservice

Der neue Verhaltenscodex „Abstand halten“ hat sich nicht nur in der Schlange vor der Apotheke, an der Eisdiele oder beim Bäcker etabliert, sondern eben auch im Freizeitsport. Der kurze Läufergruß sendet jetzt folgende Botschaften: „Wir nehmen Rücksicht und finden das auch richtig so“ oder „Danke, dass du den Sicherheitsabstand einhältst.“ Die kleinen Gesten vermitteln symbolisch Wertschätzung für ein neues Verhaltensmuster, sie signalisieren: „Wir halten uns an die Spielregeln“. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr selbst kleine Rituale gesellschaftliche Wertvorstellungen transportieren. Dieser symbolische Bedeutungsgehalt von ritualisierten, individuellen und kollektiven Handlungen ist den Alltagsforscher*innen des ILR sehr vertraut. Sie finden es spannend zu untersuchen, inwieweit Rituale neu entstehen oder ihre Form und Funktion ändern, wenn sich Rahmenbedingungen oder Bedürfnisse wandeln, in denen sie gelebt werden.

Auch jenseits des Freizeitsports und außerhalb von Krisen erfüllen Grußrituale vielerlei Funktionen. Sie sind Teil eines gesellschaftlichen Kitts, der das zwischenmenschliche Zusammenleben regelt, ohne dass dies dem Einzelnen immer bewusst wäre. Wie sehr uns kleine Alltagsrituale in Fleisch und Blut übergegangen sind, merken wir erst, wenn wir sie nicht mehr wie gewohnt praktizieren können. Seit der erhöhten Sensibilität für die Ausbreitung des Corona-Virus haben sich die gesellschaftlichen Konventionen bei einer Begrüßung verändert. Im Zuge von Hygieneempfehlungen, die über Medien, Ärzt*innen oder Politiker*innen in die Öffentlichkeit getragen wurden, verzichtete man zunehmend auf das Händeschütteln oder die Umarmung zur Begrüßung. Traf man vor ein paar Wochen zufällig einen Bekannten auf der Straße, verlangsamte man den Schritt, reagierte etwas zögerlich, vielleicht mit einem unsicheren Lächeln. Ließ sich jemand doch zu einer spontanen Umarmung hinreißen, zuckte das Gegenüber gegebenenfalls zurück oder man fragte vorher: „Darf ich?“. Neue Verhaltensweisen waren noch nicht eingeübt und einfach übergangslos das Gespräch eröffnen wollte man auch nicht – schließlich ist der Gruß auch immer ein Signal, dass prinzipiell ein Mehr an Kommunikation möglich ist. Auch bei Begrüßungen im Rahmen von Jobterminen schimmerte das Ungewohnte der Situation zu Beginn der „Corona-Krise“ durch, wurde oftmals kommentiert mit Sätzen wie: „Man gibt sich jetzt ja nicht mehr die Hand“. Die Kommunikation über das fehlende Grußritual war eine Zeitlang der neue Gruß . Inzwischen ist der körperlose, der rein verbale oder auch der non-verbale Gruß durch ein Lächeln der neue Standard. Das neue Ritual ist uns vertrauter geworden, wird kaum mehr kommentiert – sofern man sich in Zeiten von Kontaktbeschränkungen überhaupt noch persönlich begegnet.

Auch eine neue Abschiedsformel scheint sich im Zuge der Corona-Pandemie etabliert zu haben. Man hört sie von Fernsehmoderator*innen, liest sie in privaten und beruflichen E-Mails und anderen digitalen Nachrichten oder sieht sie auf Aushängen, mit denen Geschäftsinhaber ihre Kunden über die Schließung des Ladens informieren: „Bleiben Sie gesund!“. Oder auch: „Passen Sie auf sich auf“. Nicht ausgeschlossen, dass sich diese Formeln halten, auch wenn sich die Corona-Pandemie verflüchtigt hat. Doch das bleibt abzuwarten. Diese und andere Entwicklungen beobachten die Forscher*innen des ILR. Vieles werden wir erst nach einiger Zeit abschließend bewerten und analysieren können. In jedem Fall halten wir Sie auf diesen Seiten gerne auf dem Laufenden.

Lesen Sie hier, was die Kolleg*innen vom Sprachteam des ILR über die neue Grußformel sagen.

Gabriele Dafft