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Nicht spucken, bitte.
Kulturanthropologische Gedanken zum Schutz vor Tröpfchen
Seit gut zwei Wochen schon werden die Schutzbauten in den Supermärkten und anderen noch offenen Läden immer professioneller: waren anfangs einfach Plastikfolien aufgespannt worden, um einen unbeabsichtigten Austausch von Körperflüssigkeiten zu verhindern, sind inzwischen fast überall feste, mehr oder weniger ästhetisch gelungene durchsichtige Trennvorrichtungen aus Plexiglas eingebaut.
Seit vergangenem Montag gilt die Maskenpflicht, über die Nase-Mund-Bedeckung diskutieren Politiker, Virologinnen und Menschen quer über den Gartenzaun gefühlt seit Monaten. In den sozialen Medien werden Nähtipps ausgetauscht und Menschen, denen ich vorher keinerlei Hang zu Handarbeiten zugetraut hätte, erweisen sich als versierte Maskenmacher und kreative Designer.
Worum geht es? Wir wissen inzwischen, dass sich das Coronavirus ähnlich wie eine Erkältung über Tröpfchen aus dem Mund-Rachenraum verbreitet. Beim Husten und Niesen werden jedesmal Milliarden von winzigen Viren meterweit in die Umgebung geschleudert. Klar, Verbreitung und Vermehrung ist genetisch programmiertes Ziel von Viren, deshalb auch der Hustenreiz. Um diese Tröpfchenverbreitung zu verhindern, haben wir alle inzwischen gelernt, in die Armbeuge zu husten, das lenkt zumindest einen Teil der Viren auf den eigenen Körper zurück. Das reicht aber nicht, denn auch beim normalen Atmen und vor allem beim Sprechen werden unbemerkt Mikrotröpfchen ausgestoßen: Sprachwissenschafler*innen mögen mich korrigieren, aber Zisch- und Plosivlaute sind besonders riskant. Viele von uns erinnern sich mit wiederkehrenden Ekelgefühlen an Situationen mit Menschen, die eine so genannte „feuchte Aussprache“ haben, meist unbemerkt von ihnen selbst, aber prägend für die Umgebung. Vor diesen Tröpfchen sollen Maßnahmen wie die Gesichtsmaske und die durchsichtige Trennwand schützen.
Auch Kunst muss geschützt werden (Bonn 2020), Fotografin: Nina Bauer, © LVR
Kulturanthropologisch ist nun hochspannend, wie Menschen mit diesem Wissen um Tröpfcheninfektion und Schutzmaßnahmen umgehen. Es geht aber in diesem Beitrag nicht um kreative Maskengestaltung, sondern um die kulturelle Bedeutung von Speichel, der als natürliche Körperflüssigkeit in bestimmten historischen und sozialen Kontexten bemerkenswerte symbolische Aufladungen erhält.
Grundsätzlich ist Speichel eine lebenswichtige Sache: Produziert in den Speicheldrüsen im Mundraum, sorgt er für stets ausreichende Feuchtigkeit für die empfindlichen Schleimhäute. Bis zu 1,5 Liter produzieren die menschlichen Speicheldrüsen täglich. Speichel löst beim Essen harte Bestandteile an und auf, so dass unterschiedlichste Nahrungsmittel für uns überhaupt essbar sind. Speichel spielt eine wichtige Rolle beim Schmecken und Riechen sowie beim Sprechen. Er reinigt den Mundraum und die Zähne, wirkt antibakteriell. Eigentlich also ein extrem nützliches Sekret - solange wir alle unseren Speichel für uns behalten. Denn den Speichel von fremden Menschen empfinden die meisten von uns als hochgradig ekelerregend.
Über das Thema „Ekel“ werde ich in einem anderen Beitrag (Reinheit und Gefährdung) in den nächsten Tagen noch detaillierter schreiben, aber kurz so viel: Ekel ist ein kulturell erlerntes Gefühl, das sehr starke Reaktionen auslöst. Als ekelerregend werden Körperausscheidungen gewertet, aber auch, und das ist ein Hinweis auf die Bedeutung von Ekelgefühlen für kulturelle Ordnungssysteme, Köper(inhalts-)teile, die nicht an ihrem eigentlichen Platz sind: Blut, das aus einer Wunde fließt, Speichel und Schleim, der bei Erkältungen aus der Nase tropft, oder auch die künstlich als Ekelreaktion erzeugten Emotionen in Splatterfilmen, die zerstörte Körper im Detail zeigen.
Weil die Auslöser von Ekelreaktionen intensiv negativ bewertet werden, sind sie wiederum brauchbare Werkzeuge, um massive Gefühle von Abwertung, Abgrenzung, Verletzung und Erniedrigung zu erzeugen. Viele unsere Schimpfwörter und Beleidigungsformeln enthalten Hinweise auf Fäkalien: So ein Scheiß! Du Pissnelke! Es gibt viele Beispiele dafür, auch in anderen Sprachen.
Um auf den Speichel zurückzukommen: Das Anspucken von Dingen und Menschen ist eine massive Geste der Demütigung, Beleidigung und Erniedrigung. Jemanden anspucken ist ein bewusster Angriff auf die Integrität und die Ehre des anderen. Im deutschen Strafrecht ist das Anspucken eine tätliche Beleidigung, die mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden kann. Ebenso ist das Ausspucken vor einer anderen Person beleidigend.
Wobei das Ausspucken im Alltag ziemlich häufig beobachtet werden kann: Zum einen bei Sportlern, die ihr Ausspeien im öffentlichen Raum mit vermehrter Schleimentwicklung und damit einhergehender Atemnot bei Anstrengung erklären: Der Schleim muss halt raus. So manche Szene auf und an Fußballplätzen aber scheint doch zumindest im Übergang zwischen Beleidigung und Atemwegspflege zu sein.
Ähnlich das vor allem bei männlichen Jugendlichen in Gruppen beliebte Ausspucken – es gilt als „männlich“ (daher kann ich auf die weiblichen Formen verzichten), als „cool“, wirkt gruppenstärkend und kann problemlos aus einer Selbstbestätigungsgeste zur Provokation hin zur Beleidigung variiert werden.
Dass es dem überwiegenden Teil der Restbevölkerung unangenehm ist und Ekelgefühle entstehen, wenn eine Gruppe 14-jähriger Jungs an der Bushaltestelle steht und ausspuckt, hat aber auch historische Gründe, die mit Krankheitserfahrungen zu tun haben. Denn über den Speichel verbreiten sich natürlich auch Erreger aus den Atemwegen – siehe Corona. Viele tödliche Infektionskrankheiten weltweit von der Pest über Ebola und Grippe sind auch über Speichel übertragbar, die Tröpfcheninfektion als hocheffektiver Verbreitungsweg von Erregern ist mitverantwortlich für pandemische Ausbreitung.
Während der Pest beispielsweise wurden ebenfalls Masken als Schutz getragen, berühmt geworden sind die Schnabelmasken der Pestdoktoren des 17. und 18. Jahrhunderts. Die mit Gewürzen, Essigschwämmen oder ähnlichen Dingen gefüllten Schnäbel sollten die Luft reinigen und filtern, glaubte man doch an eine Übertragung durch so genannte Miasmen, eine krankmachende Verseuchung der Luft.
Aber gerade das Ausspucken hat in Europa (und auch in anderen Teilen der Welt) einen ganz schlechten, aus Epidemieerfahrung erwachsenen Ruf. Grund ist die Tuberkuloseepidemie des 19. Jahrhunderts.
Durch Tuberkulose ausgelöste Knochenveränderungen sind bereits in der Steinzeit nachgewiesen. Sie finden sich in ägyptischen Mumien, in Gräbern der frühen Hochkulturen, Griechenland, dem römischen Reich und im Mittelalter. Aber erst in Phasen großen Bevölkerungswachstums wird Tuberkulose oder Schwindsucht als ernstes Problem und Seuche wahrgenommen. Über die Ursachen gab es verschiedene Theorien, mancherorts galt sie als erblich, viele Ärzte hielten verseuchte Luft oder Erde für ursächlich, auch die Idee eine Ansteckung durch erkrankte Menschen gehörte zu den Erklärungsthesen.
Im 19. Jahrhundert war die Tuberkulose eine Krankheit der Armen: in den wachsenden Städten der Industrieregionen war ein großer Teil der Bevölkerung infiziert, um 1880 war jeder zweite Todesfall bei Menschen zwischen 14 und 40 Jahren auf Tuberkulose zurückzuführen. Als Therapie wurde Ruhe, Licht und Luft (tatsächlich tötet UV-Licht den Erreger ab) sowie gute Ernährung empfohlen, was gerade für die besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen der Armen, zu denen auch der größte Teil der Industriearbeiter*innen gehörten, nicht realisierbar war. Einen Sanatoriumsaufenthalt, wie ihn Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ beschreibt, konnten sich nur Erkrankte aus reichen, bürgerlichen oder adeligen Familien leisten. Hier galt die Krankheit teilweise gar als attraktiv: die Fieberschübe, Schwäche und Blässe der Kranken entsprachen bei Frauen einem damaligen Schönheitsideal.
Spätestens seit der Entdeckung des Tuberkel-Bakteriums durch Robert Koch 1882 wusste man mehr über Ausbreitungs- und Ansteckungswege: Tuberkulose wird vor allem über infektiöse Tröpfchen beim Husten und Spucken übertragen. Als seuchenmedizinische Maßnahme versuchten Regierungen in ganz Europa das verbreitete Ausspucken auf den Boden zu unterbinden. Mit freundlichen Bitten, Ermahnungen, Verboten und Geldstrafen: Bitte nicht Spucken.
Ein Spuck-Verbotsschild aus einem Bahnhof, frühes 20. Jahrhundert, Fotograf: Nightflyer (talk), CC0 Historisches Schild mit Spuckverbot auf dem Bahnhof, Fotograf: Joppo Kelin from New York, CC BY 2.0
Zahlreiche Werke der Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts thematisieren das Leiden und Sterben an Tuberkulose. Diese Bilder und Texte sowie auch heute populäre Medien wie die Serie „Charité“, die passenderweise aktuell gerade wiederholt wird, halten das Wissen und die Erfahrung der Tuberkulose-Epidemie bis heute wach, auch die Erinnerung an die Ansteckungsgefahr durch das Spucken.
Dieses historische Wissen erklärt aber nicht befriedigend, warum wir heute so schnell und widerspruchslos zu Maskenträger*innen werden. Hier kommen vielfältige Erklärungen zusammen: Zum einen vermittelt das Tragen einer Mund-Nase-Maske Sicherheit, es wird als Schutzmöglichkeit vor einem unsichtbareren Virus wahrgenommen. Das Selbermachen gibt die Möglichkeit des konstruktiven (und kreativen) Handelns zum Selbstschutz, eine Gelegenheit der Selbstermächtigung in einer Situation der Verunsicherung. Und je mehr Menschen eine Maske tragen, umso selbstverständlicher wird sie: soziale und staatliche Kontrolle kommen hinzu.
Auch ein sozialer Aspekt spielt eine Rolle: Mit der Maske werden vor allem die anderen geschützt, Masken tragen ist also ein fürsorgliches Handeln. Und die selbstgenähte und individuell gestaltete Maske scheint 2020 das perfekte Geschenk für alle anstehenden Geburtstage und sonstige Feste.
Dagmar Hänel
Selbst gemachte und verschenkte Mund-Nase-Masken (Bonn 2020), Fotografin: Dagmar Hänel, © LVR