LVR-Institut für Landeskunde
und Regionalgeschichte
Logo LVR

Wir kriegen die Krise!

Interdisziplinäres Publikationsprojekt zum Alltag in der Krise

Krisen bezeichnen unserem Vorverständnis nach sowohl Einschnitte in individuelle Lebenszusammenhänge als auch kollektive Wendepunkte von Gesellschaften. Sie markieren Phasen der Destabilisierung von vermeintlich vertrauten Ordnungen und können überkommene Überzeugungen und Werte in Frage stellen.

Grafik mit diversen Stichworten zum Thema Krise Wortwolke zum Thema Krise im Kontext einzelner Projekte der ILR-Abteilung Alltagskultur und Sprache

Die aktuelle Corona-Pandemie führt eindringlich vor Augen, wie sehr krisenhafte Ereignisse gerade auch in verschiedenen Feldern des täglichen Lebens erfahrbar sind und diverse kulturelle Transformationsprozesse anstoßen. Während auf der einen Seite die Krise den Alltag auf den Kopf stellt, entstehen auf der anderen Seite neue Routinen, Praxen und Narrative, die dazu beitragen sollen, eine neue Ordnung (symbolisch) herzustellen.

Krisen sind für die Kulturanthropolog*innen und Sprachwissenschaftler*innen im ILR ein „heuristischer Glücksfall“ (S. Beck/ M. Knecht 2012) und eine Herausforderung, die sie gerne annehmen. Denn in Krisen lassen sich sowohl die gesellschaftliche Situation als auch kollektive Befindlichkeiten wie durch ein Brennglas beobachten und analysieren. Darüber hinaus scheint sich im Zuge der gegenwärtigen Corona-Pandemie das öffentliche Interesse am Themenfeld Alltag verstärkt zu haben. Beispielsweise häuften sich gerade in den ersten Wochen der Pandemie in klassischen Medien und in Social Media die Berichte und Geschichten darüber, wie Menschen die veränderten Rahmenbedingungen ihres täglichen Lebens wahrnehmen und gestalten. Gleichzeitig wurden im universitären Bereich diverse Projekte gestartet, die die Erforschung des Krisenalltags zum Inhalt haben – so auch in Bonn. Auf dieses Interesse hat auch das ILR auf Basis seiner Fachkompetenzen reagiert und verschiedene Beiträge online veröffentlicht. Bei aller Beschäftigung mit der spezifischen „Krise“ – der Corona-Pandemie – und der Phänomenologie ihres Alltags interessieren uns aber auch übergreifende Fragen, wie z.B.:

Eine Publikation soll diese und andere Fragen klären und dabei einzelne Themenschwerpunkte der Abteilung Alltagkultur und Sprache des ILR vorstellen, die sich „durch die Krisenbrille“ betrachten und analysieren lassen. Denn der kollegiale und fachliche Austausch macht uns bewusst, dass viele unserer Themen eine Schnittstelle zu krisenhaften Alltagserfahrungen haben: Ob es zum Beispiel um die Umsiedlung im rheinischen Braunkohlerevier geht oder um geflüchtete Jugendliche, die in einer neuen Umgebung Fuß fassen möchten; ob um lokale Vereine, die trotz der Corona-Beschränkungen ihre identitätsstiftenden Rituale lebendig gestalten oder um visuelles Erinnern an Lebenskrisen beim Durchblättern von Fotoalben. Auch die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Neologismen und neuen Sprachroutinen zeigt, wie dynamisch sich solche Phänomene gerade in und durch Krisen entwickeln.

Das Publikationsprojekt bündelt die Kompetenzen der einzelnen Wissenschaftler *innen, um auch übergreifende Erkenntnisse zum Thema Krise aus den einzelnen Forschungsprojekten abzuleiten. Neben dem Erkenntnisgewinn einzelner Beiträge stehen eine modelhafte Beschreibungen von Krisen und von ihrem Verlauf im Fokus sowie die mentalen, symbolischen, sprachlichen und handlungsorientierten Bewältigungsstrategien, die Menschen im Rheinland auf der Suche nach einer neuen Alltagsordnung entwickeln.

Über aktuelle Entwicklungen des Projektes werden wir auf dieser Seite berichten.

Gabriele Dafft

Literatur
Beck, Stefan / Knecht, Michi: Jenseits des Dualismus von Wandele und Persistenz. Krisenbegriffe der Sozial- und Kulturantrhopologie. In: Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, hrsg. v. Mergel, Thomas, Frankfurt a. M., New York, 2012, S. 59-76