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Kulturschocks im 19. Jahrhundert
Mit dem Beginn des Massentourismus im 19. Jahrhundert finden sich zunehmend Berichte, die das Reisen erleichtern sollten und mit allerlei Informationen für die Lesenden aufwarten. Neben Karl Baedeker, welcher insbesondere im deutschsprachigen Raum Reisebücher produzierte und vertrieb, war das Verlagshaus Murray in England erfolgreich im Verlegen von Reiseliteratur. Gegründet 1768, vertrieb John Murray III ab 1836 das erste Reisehandbuch im väterlichen Betrieb: „A Hand-Book for the travellers on the continent. Being a guide through Holland, Belgium, Prussia and Northern Germany and Along the Rhine, from Holland to Switzerland.“, welches bis 1875 in insgesamt 19 Auflagen gedruckt wurde.
Am 14. Juni 2022 um 18 Uhr wird im Siebengebirgsmuseum Königswinter die Ausstellung „Mit Baedeker um die Welt“ eröffnet.
Das Buch, mehr als 500 Seiten umfassend, bot umfangreiche Informationen, wie sich die englischen Reisenden vorzubereiten hatten, wie die Wechselkurse der Währungen waren, es bot Informationen zur Dauer unterschiedlicher Touren, stellte Sehenswürdigkeiten dar und gab zudem einen Außenblick auf „Germany“, unter das er den Großteil der deutschsprachigen Gebiete zu verstehen schien. Doch was bedeutete Deutschland vor der Gründung des Kaiserreichs aus der Perspektive eines Engländers? Auf welche vermeintlichen Eigenheiten wurden die englischen Reisenden vorbereitet? Von Interesse kann eine solche Außensicht sein, weil sie zum einen vermeintlich selbstverständliche Aspekte hervorhebt und zum anderen eine prägende Wirkung auf die vielen Lesenden hatte – ungeachtet der Frage, ob die Schilderungen zutreffend waren oder nur auf einzelnen subjektiven Eindrücken beruhten. Die Reisenden wurden von John Murray mit diesem Buch auf das Reisen und was sie auf dem Kontinent erwartet, vorbereitet. Auch für die Gegenwart können solche Schilderungen interessant sein, da sie aufzeigen wie stark Alltagskultur einem historischen Wandel unterliegt.
Wie stellte John Murray die deutschsprachigen Gebiete also dar? Hierzu ein paar amüsante Einblicke.
Zunächst beginnt die Kritik bereits im Hotel, genauer im Schlafzimmer, wo die Betten keineswegs dem britischen Standard entsprachen. In Deutschland waren Betten bis teils weit ins 19. Jahrhundert deutlich kürzer. Das lag weniger an dem Umstand, dass die Menschen früher etwas kleiner waren – 1850 vermutlich um die 14 cm kleiner als heute – sondern, dass man bis nicht liegend schlief, sondern meist halb sitzend. Auch unterschied sich die Ausstattung des Bettes. So schreibt Murray etwas süffisant:
„Ein deutsches Bett ist nur für eine Person gemacht; man kann es mit einer offenen Holzkiste vergleichen, die oft kaum breit genug ist, um sich darin zu drehen, und selten lang genug für einen Engländer von mäßiger Statur, um sich darin hinzulegen. Die Kissen reichen fast bis zur Hälfte hinunter und bilden einen solchen Winkel mit dem Bett, dass es kaum möglich ist, in voller Länge zu liegen oder eine andere als eine halb sitzende Haltung einzunehmen. Vorhänge fehlen immer. An die Stelle der Decken tritt manchmal ein leichtes, bauschiges Federbett, das bei kaltem Wetter leicht weggestoßen wird und den Schläfer in seiner größten Not im Stich lässt, so dass er beim Aufwachen erfroren ist; sollte es bei warmem Wetter in seiner Position bleiben, besteht die Alternative darin, darunter zu ersticken.“
Engländer*innen, die die Nacht in den deutschen Betten überlebt haben und sich unter die deutsche Bevölkerung mischten, empfahl Murray sich den Gepflogenheiten anzupassen um nicht aufzufallen. Er riet unter anderem braune Kleidung zu tragen und beispielsweise auf blaue Kleidung zu verzichten, da diese allgemein von den Menschen getragen wurde, die auf dem Land arbeiteten. Wie sollte man sich nun verhalten, wenn man auf Menschen trifft? Eine doch etwas überraschende Beschreibung lieferte Murray hinsichtlich der Begrüßung zwischen deutschen Männern:
„Wenn ich den Reisenden die Nachahmung bestimmter deutscher Bräuche empfehle, so ist damit nicht die unter deutschen Männern weit verbreitete Praxis gemeint, ihre männlichen Freunde mit einem Kuss auf jede Seite der Wange zu begrüßen. Es ist gewiss nicht wenig amüsant, […], diese bei uns weibliche Art der Begrüßung zwischen zwei bärtigen und schnauzbärtigen Hünen im Alter von 50 oder 60 Jahren zu beobachten.“
Ob diese Praxis wirklich flächendeckend verbreitet war, darüber lassen sich wenig Quellen finden – eventuell, weil sie als selbstverständlich und deswegen als nicht erwähnenswert galt. In Aufzeichnungen eines Reisetagebuchs englischer Ladys lässt sich aber eine ähnliche Schilderung – hier für Silvester – nachweisen:
„Am Abend des neuen Jahres wurde ein riesiger Ball im Versammlungsraum veranstaltet und als der Schlag der Uhr ankündigte, dass das alte Jahr vorbei war, bekundete die Gesellschaft den Respekt füreinander und wünschte sich allen ein frohes neues Jahr. Alle Männer küssten sich. Es war sehr amüsant zu sehen, wie sich Offiziere in Uniform und großen Schnauzbärten sich gegenseitig wie Frauen umarmten, aber dies ist in diesem Land nichts Ungewöhnliches“
Unwahrscheinlich ist die Verbreitung von Wangenküssen und liebkosenden Gesten aber keinesfalls, da der Wangenkuss beispielsweise in Frankreich weit verbreitet ist und war und Frankreich – insbesondere nach der Französischen Revolution – einen starken kulturellen Einfluss ausübte. Insbesondere die linksrheinischen Gebiete waren aufgrund der Nähe sowie ihrer zwanzigjährigen Zugehörigkeit zu Frankreich stark geprägt worden. Eine weitere Art der Begrüßung, beziehungsweise das Ausmaß dieser, amüsierte Murray ebenfalls. Er zitiert einen Brief aus Holstein:
„In einer Hinsicht aber wird [die Höflichkeit] in Deutschland meines Erachtens zu weit getrieben - ich meine das ständige Abziehen des Hutes. Spaßhaft gesagt wird es wirklich teuer; denn bei einem Manne, der auf irgendeinem öffentlichen Platze große Bekanntschaft hat, ruht der Hut nie zwei Minuten.“ Und auch für Süddeutschland schildert er, dass an einer Promenade ein offizieller Aushang hing: „Für die Bequemlichkeit der Spaziergänger wird besonders darum gebeten, dass der lästige Brauch des Begrüßens durch das Abnehmen des Hutes hier entfallen möge.“ Begrüßt wurden laut ihm nämlich nicht nur Menschen, die man gut kannte, sondern auch andere andere Menschen.
Kam es nach dem Begrüßen durch Abnehmen des Hutes zu einem Gespräch, so endete hier nicht die Verwirrung. Murray schreibt:
„Eine Angewohnheit der deutschen Gesellschaft, die einen Engländer manchmal zum Schmunzeln bringt, obwohl es ihn einige Mühe kostet, sie sich anzueignen, ist die Notwendigkeit, jeden, ob männlich oder weiblich, nicht mit seinem eigenen Namen, sondern mit dem Titel des Amtes, das er bekleidet, anzureden.“
Hofrat, Justizrat, Baurat, und allerlei andere Titel waren zu nutzen und falls kein Ehrentitel vorhanden war, so wurde auch die Profession, also der Beruf genannt. Kein leichtes Unterfangen, besonders, wenn man zunächst die Stellung der Person herausfinden musste. Wer sich letztlich (lasterhaft) von den Strapazen des Schlafens, Grüßens und Ansprechens erholen wollte, griff – soweit man es sich leisten konnte - in Deutschland zu Pfeife oder Zigarre. Dies war durchaus weitverbreitet, allerdings sollte man es nicht in den Städten versuchen, denn:
„Es mag nicht verfehlt sein zu erwähnen, dass das Rauchen, so allgemein es in Deutschland auch praktiziert wird, in den Straßen der großen Hauptstädte polizeilich gänzlich verboten ist; und Personen, die diese Vorschrift nicht kennen oder sie vorsätzlich verletzen, werden oft von den diensthabenden Wächtern angehalten und gezwungen, die Pfeife oder Zigarre aus dem Mund zu nehmen.“
Unsere Schlafgewohnheiten haben sich geändert, Begrüßungen haben sich individualisiert, Hüte sind aus der Mode gekommen, Menschen werden mit ihrem Namen angesprochen und geraucht wird meist nur noch draußen. Große kulturelle Schocks werden Engländer*innen nicht mehr erleiden, wenn sie Deutschland besuchen.