LVR-Institut für Landeskunde
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Weihnachten, ein Gemeinschaftsfest

Gemeinsam ein gutes Essen genießen, unterm Weihnachtsbaum sitzen, miteinander erzählen, lachen, sich gegenseitig etwas schenken – weihnachtlich feiern, in welcher Form auch immer, das heißt vor allem, in einer Gemeinschaft feiern.

Fünf Personen, zwei Frauen und drei Männer stehen nebeneinander und haben die Arme um die Schulter der Nebenstehenden gelegt. Sie tragen zum Teil Weihnachtsmützen auf dem Kopf und lange silberfarbene Weihnachtsbaumketten um den Hals. Mitarbeitende und Jugendliche von AsA e.V. auf der Weihnachtsfeier 2019. Foto: AsA e.V.

An Weihnachten geht es darum, durch gemeinsam erlebte Rituale menschliche Nähe herzustellen. Weil das so ist und weil Weihnachten in der christlich geprägten Kultur eine ganz zentrale Rolle einnimmt, trifft es uns im Pandemie-Jahr umso härter, dass nun auch dieses Fest von massiven Einschränkungen betroffen ist, die vor allem auf ein Social Distancing zwecks Infektionsvermeidung abzielen.

Soziale Distanz und menschliche Nähe zusammenzubringen, das stellt uns diesen Dezember vor besondere Herausforderungen. Bereits im Vorfeld der am 12.12.20 verkündeten aktuellen Verordnungen durch die Bundesregierung hat die Frage „Was wird dieses Jahr aus unseren Weihnachtsplänen?“ viele Menschen beschäftigt und verunsichert. Seit Oktober konnten wir eine intensive gesellschaftliche, politische und mediale Diskussion darüber verfolgen, wie Weihnachten „gerettet“ werden kann. Sehr oft wurde dabei thematisiert, mit welchen Regelungen es gelingen könne, dass „die Familie“ die Festtage gemeinsam verbringt. Der Fokus auf familiäre Gemeinschaften mag angesichts vielfältiger Lebensentwürfe in unserer pluralen Gesellschaft etwas verwundern – aber dann auch wieder nicht. Denn im Zuge einer zunehmenden Säkularisierung des alltäglichen Lebens tritt schon seit einigen Jahrzehnten die religiöse Bedeutung des Weihnachtsfestes immer mehr zurück, wohingegen seine Rolle als Familien- und Geschenkefest immer weiter in den Vordergrund gerückt ist – und dabei vielleicht auch ein wenig überhöht wurde. Eine Entwicklung, die schon im 19. Jahrhundert mit der Ausformung des bürgerlichen Weihnachtsfestes ihren Anfang genommen hat.

Sehnsuchtsort Weihnachten

An einem Tisch vor einem Weichnachtsbaum sitzen ein Mädchen, ein Junge, einer Frau und ein Mann. Der Mann spielt auf der Zither, die Kinder spielen ein Brettspiel. Ein weiterer Junge steht vor dem Christbaum, Familienweihnacht. Spielen und Musizieren vor dem Tannenbaum. Foto: Sammlung Ferber/Archiv des Alltags im Rheinland, LVR-ILR.

Bilder vom Familienfest dominieren die heutige Vorstellung von den Weihnachtstagen auch dann, wenn eine steigende Anzahl von Singlehaushalten, alternativen Lebensgemeinschaften und Gesellschaftsentwürfen nahelegt, dass auch Feiern in anderen Konstellationen stattfinden. Wie omnipräsent heteronormative Bilder der Familienweihnacht sind, dazu reicht ein Blick in aktuelle Werbespots: Sie zeigen Szenen, in denen Mutter, Vater und Tochter im Supermarkt überlegen, was denn dieses Jahr Leckeres auf dem weihnachtlichen Menüplan stehen soll; die Spots inszenieren das Schneemannbauen des Kindes vor dem gemeinsamen Festmahl am reich gedeckten Familientisch oder den glitzernden Weihnachts-Truck, der den Vater endlich nach Hause zu seiner Tochter bringt. Die nach wie vor populäre und werbewirksame Vorstellung vom Weihnachtsfest als Abfolge von Familienritualen in besinnlicher Atmosphäre lässt sich aus Sicht der Kulturanthropologie so erklären: Weihnachten ist ein hoch emotionalisiertes Fest und bietet eine Folie für vielerlei Sehnsüchte. Dynamische Veränderungsprozesse, die mit Phänomenen wie zum Beispiel Globalisierung, großen Migrationsbewegungen, zunehmender Digitalisierung und nun auch einer weltweiten Pandemie einhergehen, machen die Wirklichkeit für viele Menschen unüberschaubar. Das kann Verunsicherungen und Ängste auslösen. Der Rückgriff auf traditionelle Familienkonstellationen, auf händelbare Sozialstrukturen und vertraute Formen des Feierns vermittelt dann Sicherheit und Stabilität. Weihnachten wird so auch zum Sehnsuchtsort, der gemeinschaftliches Beisammensein in überschaubaren Größenordnungen ermöglicht.

Weihnachtliches Kartenmotiv mit Aufdruck "Fröhliche Weihnachten" zeigt Mann und Frau am Weihnachtsbaum, unter dem Geschenke liegen. Ein Junge und ein Mädchen werden mit einem Glöckchen zum Baum gerufen. Weihnachten als bürgerliches Fest der Familie und mit zahlreichen häuslichen Ritualen wurde im 19. Jahrhundert populär. Weihnachtskarte Anfang 20. Jhd.

Ein Stückchen heile Welt unterm Tannenbaum wird auf diese Weise rituell hergestellt und dabei vielleicht sogar der Ort der Kindheit rekonfiguriert. Songs wie „Driving home for Chistmas“ (1989, Chris Rea) oder „Weihnachten bin ich zu Haus“ (1968, Hans Bertram, Roy Black, Axel Weingarten) sind eine musikalische Hommage an diesen Sehnsuchtsort.

Weihnachten ist anschlussfähig für unterschiedliche Bedürfnisse

Mehrere Frauen und Männer sitzen an einer L-förmigen Tischformation, manche unterhalten sich, ein paar halten gerade glimmende Wunderkerzen lächelnd vor sich. Vor den Feiernden stehen Teller, Tassen und Kaffeekannen. Einmal außerhalb des Büroalltags zusammenkommen: Weihnachtsfeier im Kolleg*innenkreis mit Kaffee, Gebäck und Wunderkerzen, ca. 1987. Foto: Archiv des Alltags im Rheinland (LVR-ILR) Gedeckter Tisch mit zahlreichen Schälchen, in denen Speisen sind, in der Mitte ein Raclettegrill. Dieses Raclette gibt es als jährliches Weihnachtsritual im Freundeskreis nach dem 2. Weihnachtsfeiertag. Dann sind alle wegen eines Familienbesuchs in der Nähe. In diesem Jahr fällt es aus. Köln 2019, Foto: Gabriele Dafft/LVR-ILR

Die dominierende Vorstellung von Weihnachten als Fest der Familie wurde auch in der Diskussion um besondere Corona-Regeln anlässlich der Festtage überdeutlich. Über die Frage, wie es gelingen kann, dass beispielsweise auch der alleinstehende Onkel Franz sich vom Weihnachtsgans-Essen nicht ausgeschlossen fühlt, darf man aber nicht vergessen, dass eben nicht alle Menschen über die Ressourcen und die sozialen Bindungen verfügen, ein heimeliges Beisammensein im festlich-familiären Rahmen zu realisieren. Und darüber hinaus: Es gibt auch jenseits der Familie vielfältige soziale Gruppen, die die Weihnachts- oder Adventstage zum Anlass nehmen, um sich einmal außerhalb des alltäglichen Rahmens kennenzulernen und miteinander zu feiern. Ob das die Weihnachtsfeier im Unternehmen ist, das Fest des Sportvereins mit Bescherung für die jüngsten Mitglieder, ob Institutsfeier an der Uni, zu der sich auch Ehemalige wieder einmal sehen lassen oder das adventliche Waffelbacken mit Feuerzangenbowle in der WG, zu der auch immer die Nachbarn eingeladen wurden. All diese Gruppen mussten in diesem Jahr auf liebgewordene, gemeinschaftsstiftende Traditionen verzichten. Von einem ganz konkreten Beispiel soll hier zum Abschluss und im Rückblick auf Weihnachten 2019 etwas ausführlicher erzählt werden: Einer Weihnachtsfeier mit geflüchteten Jugendlichen in Bonn, die vom Verein AsA – Ausbildung statt Abschiebung e.V. wie auch schon in den Jahren zuvor ausgerichtet wurde.

Weihnachten als interkulturelles Erlebnis

AsA e.V. betreut rund 200 Jugendliche bei der Suche nach Ausbildungsplätzen, organsiert Sprachnachhilfe mit Ehrenamtlichen, bietet Unterstützung bei Behördengängen und sorgt dafür, dass die Jugendlichen den Bonner Alltag kennenlernen.

Im Vordergrund grüne, glitzernde Weihnachtsdeko, im Hintergrund tanzen und unterhalten sich junge Leute. Die integrative Weihnachtsfeier (2019) bringt Ehrenamtliche, Jugendliche und Mitarbeitende in den lockeren Austausch. Foto: Gabriele Dafft/LVR-ILR

Freizeit- und interkulturelle Festveranstaltung sind Teil des Angebots, sie sollen den traumatisierten jungen Menschen positive Erfahrungen ermöglichen und Toleranz fördern. Im Rahmen eines Forschungsprojektes steht das ILR in Kontakt zum Verein und den Jugendlichen und war auch bei der Weihnachtsfeier 2019 dabei. Diese Feier brachte auf besondere Weise Ehrenamtliche, Jugendliche und Mitarbeitende zusammen. Ein großer Raum mit geschmücktem Weihnachtsbaum wurde dekoriert, es gab ein kleines Programm mit einem lockeren Rückblick der Geschäftsführerin auf das vergangene Jahr und Videoclips, in denen die Jugendlichen von ihren Erfahrungen berichteten. Nach einer kurzen Erläuterung zum Hintergrund des Weihnachtsfestes stimmte eine der Nachhilfelehrerinnen zwei Weihnachtslieder an. Wer wollte, sang oder summte mit oder unterhielt sich mit den Tischnachbarn über „komische deutsche Wörter“ im ausliegenden Liedtext. Ein junger Mann übernahm die Bühne und trug zwei afghanische Songs mit Gitarrenbegleitung vor. Dann wurde das internationalen Buffet eröffnet, die Jugendlichen tanzten zur Musik, die sie selbst ausgewählt hatten und die aus ihren Herkunftsländern stammte, meist Afghanistan oder Ghana.

Die entspannte Mischung unterschiedlicher Ritualelemente aus verschiedenen ethnischen Gruppen, aber auch die Verbindung von Jugendkultur (Musik und Tanz) und Erwachsenenkultur (viele Ehrenamtliche sind im Rentenalter) schien das Erfolgsrezept zu sein, um alle Anwesenden in einen fröhlichen Austausch zu bringen. An den einzelnen Tischen entstanden lebendige Gespräche, Selfies vor dem Weihnachtsbaum wurden gemacht, lustige Weihnachtshüte gingen rund, es wurde viel gelacht und auch für besinnlichere Szenen war Raum: Gelegentlich sah man, wie sich Nachhilfelehrer*innen und ihre Schüler*innen herzlich und ein wenig gerührt in die Weihnachtsferien verabschiedeten. Manche Tandems kennen schon seit Jahren die Höhen und Tiefen des anderen.

Frau mit glitzerndem Weihnachtshut und Weihnachtsbrille am Schreibtisch. Johanna Strohmeier, Geschäftsführerin von AsA, bringt die Jugendlichen im Dezember gerne mit ihrer Sammlung kitschiger Weihnachtshüte zum Lachen. Foto: AsA e.V.

Hilfsorganisationen oder Bildungseinrichtungen müssen sich gelegentlich mit der kritischen Frage auseinandersetzen, ob es legitim sei, Menschen mit Migrationshintergrund und muslimischen Glauben mit christlichen Ritualen zu konfrontieren und ob das nicht eine Form von Missionierung bedeute. Die Weihnachtsfeier von AsA zeigte, dass sich diese Frage in der Realität des Feierns gar nicht erst stellt, wenn es ein gemeinsam gestaltetes Fest ist. Eine Feier, bei der jeder einen Einblick in die Lebenswelt der anderen bekommt und den Freiraum hat, selbst zu entscheiden, wie intensiv und womit er sich beteiligen möchte.

Johanna Strohmeier, Geschäftsführerin von AsA e.V.: „Uns ist wichtig, dass die Jugendlichen sich einbringen können. Viele sind schon lange bei uns und freuen sich jedes Jahr auf die Feier, kommen vorher mit Ideen zu uns. Wir stellen die christlichen Inhalte nicht so in den Vordergrund, sondern den Gemeinschaftsaspekt des Festes. Wir würden zum Beispiel nicht unbedingt eine Krippe bei der Weihnachtsfeier aufbauen. Aber in diesem Jahr fällt ohnehin alles aus.

Auch für die langjährige Ehrenamtliche Sabine Harling ist die Weihnachtsfeier 2019 ein gelungenes Beispiel für interkulturelles Lernen und einen funktionierenden intergenerationellen Austausch gewesen: „Ich finde es gerade gut, dass es eine fröhliche, heitere Feier ist und nicht so getragen. Weihnachten prägt unsere Kultur hier und die Jugendlichen sollen ruhig einen Einblick bekommen und das ein bisschen kennenlernen. Aber sie zeigen dann auch, wie sie selbst feiern“.

Ein junger Mann mit FFP2-Maske steht vor einem Weihnachtsbaum und hält ein Schild in die Kamera: „Ich wünsche mir mehr Gemeinschaft“. Das Schild hängt an dem Baum. Pandemie-Jahr 2020: Den Jugendlichen von AsA fehlt der persönliche Kontakt. Foto: Gabriele Dafft/LVR-ILR

Wie so vieles auch, kann diese Weihnachtsfeier leider im Pandemie-Jahr 2020 nicht stattfinden. Damit die Jugendlichen nach diesen schwierigen Monaten aber eine Geste der Verbundenheit erleben können, hat sich das AsA-Team etwas Besonderes überlegt. Johanna Strohmeier: „Sonst gibt es immer eine kleine Bescherung auf unserer Feier, eine Selbstabholung ist wegen der Schutzmaßnahmen aber auch nicht möglich. Also liefern wir dieses Jahr! Wir verkleiden uns als Weihnachtswichtel, teilen uns auf und bringen die Weihnachtspäckchen und einen Brief persönlich zu jedem Einzelnen. Gerade den Jugendlichen in den Flüchtlingsunterkünften bedeutet das viel.“

Das ILR wünscht AsA e.V. und den jungen Leuten, dass es im nächsten Jahr wieder mehr Möglichkeiten für den direkten Austausch gibt. Wir freuen uns dann auch auf das gemeinsame Projekt!