LVR-Institut für Landeskunde
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Zweiter Teil der Befragung

Wenkersätze

Die sogenannten Wenkersätze gehen zurück auf den Düsseldorfer Sprachwissenschaftler Georg Wenker. Er forschte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu deutschen Dialekten, indem er Fragebögen mit spezifischen Sätzen anfertigte und 1876 in der Rheinprovinz an Schulen schickte. Diese Fragebögen bestanden aus 42 Sätzen, die von Lehrern in den lokalen Ortsdialekt übertragen werden sollten. Zwischen 1877 und 1887 versandte er erweiterte Fragebögen in weitere Regionen des deutschen Reiches. Die Sätze werden heute als „Wenkersätze“, die Fragebögen als „Wenkerbögen“ bezeichnet. Einige der Wenkersätze wurden auch in den Fragebogen zum Dialekt der Erkelenzer Börde aufgenommen. Die heutigen Angaben können daher mit den historischen verglichen werden. Dadurch lässt sich der Sprachwandel der letzten ca. 140 Jahre nachvollziehen.

Naturgemäß gibt es mehr Variation, wenn ganze Sätze abgefragt werden, als wenn es um einzelne Begriffe geht. Ich werde im Folgenden die wichtigsten Unterschiede und Tendenzen aufzeigen. Einige Wörter und Formulierungen wurden mehrmals abgefragt. Diese werden nicht für jeden Satz einzeln aufgeführt, es sei denn, es gibt signifikante Unterschiede zu bereits erläuterten Sätzen.

1. Im Winter fliegen die trockenen Blätter durch die Luft herum.

Bei diesem Satz gibt es gleich mehrere Lexeme, die in mehreren Varianten genannt werden.

Winter

Am häufigsten tritt Wenkter/Wengter auf (17-mal), gefolgt von Winkter/Wingter (7-mal), Wänter und Winter (je 1-mal).

fliegen

flee wird 17-mal genannt, flege(n) 9-mal und eine Gewährsperson meldet fleje(n).

trockenen

Die häufigste Variante ist drüje (19-mal). Seltener sind drüch (4-mal), drück (2-mal), druch und drüge (je 1-mal).

Blätter

Die meisten Gewährspersonen melden Blä(e)r (16-mal), es folgen Bla(a)r(e) (7-mal), Blave, Blätter und Loav (je 1-mal). Die Gewährsperson, die Blätter nennt, ist die jüngste der Personen, die den Fragebogen ausgefüllt hat. Ihre Angaben sind generell stärker vom Standarddeutschen geprägt als die anderen. Das ist jedoch kein Zeichen dafür, dass sie eine bessere oder schlechtere Sprache spricht, sondern dass der Dialekt der Erkelenzer Börde – wie alle Sprachen – im Wandel ist.

Luft

Das Vorkommen der verschiedenen Varianten für Luft sind gleichmäßiger verteilt als die der oben genannten Lexeme. Gemeldet werden Luft (7-mal), Lof (6-mal), Luet (5-mal), Loft (4-mal) und Luf (2-mal).

herum

12 Gewährspersonen gebrauchen erömm, drei röm und 13 verwenden das Wort in diesem Satz überhaupt nicht.

Kombiniert man die am häufigsten genannten Varianten, erhält man den Satz „Em Wenkter flege de drüje Blär durch de Luft.“

Historischer Beleg

Emm Wengter fleegen de drüg Blaare n der Lo-ud erömm.

Der historische Beleg von 1876 unterscheidet sich nicht stark von den neueren Angaben. „in der Luft herum“ wäre auch im Standarddeutschen eine denkbare Alternative zur Formulierung „durch die Luft herum“, die die Bedeutung, wenn überhaupt, nur marginal verändert. Der größte Unterschied ist, dass „Luft“ hier als Lo-ud erscheint, ähnlich wie im Wenkerbogen 23926 aus Mönchengladbach zur gleichen Zeit; dort wird „Lout“ angegeben. Hier ist ein standardsprachlicher Einfluss auf die heutigen Sprecher:innen denkbar.

2. Das Feuer war zu heiß, die Kuchen sind ja unten ganz schwarz gebrannt.

In Hinblick auf die Zweite Lautverschiebung ist dieser Satz sehr interessant. Die Gewährspersonen machen verschiedene Angaben zu diesem Satz.

Kuchen

Einige Teilnehmende haben „die Kuchen“ als Singular („der Kuchen“) übertragen: do Kok is, der Kok ist, de Kohk is, dä [Kook] is, dä Kook wor, de Kook es.

zu

Die lautverschobene Variante ze und die nicht-lautverschobene Varianten te, de und to werden in vergleichbar oft genannt: ze 12-mal, te/de/to 17-mal.

heiß

Für eine sprachwissenschaftliche Untersuchung ist hier nicht nur die Lautverschiebung, sondern auch der Vokalismus. Wieder stehen lautverschobene Varianten neben nicht-lautverschobenen. Lautverschobene Meldungen lauten heiß, hees und hieß. Sie wurden 10-mal genannt. Ein wenig häufiger ist das nicht-lautverschobene heet mit 13 Meldungen. heiß, 5-mal gemeldet, ist die einzige Variante für heiß, die einen Diphthong (Zweilaut) aufweist. Der Diphthong ei im standarddeutschen heiß ist eine Entwicklung der sogenannten frühneuhochdeutschen Diphthongierung. Dieser Lautwandel hat die meisten Varietäten des Deutschen erfasst, die des Rheinlandes (und wenige andere) jedoch nicht. Die Gewährspersonen, die heiß melden, sind also vom Standarddeutschen beeinflusst.

Zwei Gewährspersonen melden andere Lexeme für heiß, nämlich huch (hoch) und wärm (warm).

die

Fast die gleiche Anzahl von Gewährspersonen meldet die (11) wie de/ (12). Einmal erfolgt die Meldung von do.

ja

Eine Person meldet ja, während jo 14-mal vertreten ist. In 13 Fragebögen wurde die Partikel völlig weggelassen.

unten

Die am häufigsten gemeldeten Varianten sind unge (5-mal) und onge (18-mal). Das Auftreten des Lauts ng, fachsprachlich „velarer Nasal“, wird Velarisierung genannt und ist typisch für das Südniederfränkische. Dieser Lautwandel hat auch zu drunger geführt, wie es eine Gewährsperson meldet. Einmalig ist die Meldung one.

ganz

ganz wird 5-mal gemeldet, das dialektale janz hingegen 13-mal. Unerwartet ist die einzige Meldung von hanz.

schwarz

Wieder finden sich Belege für lautverschobene und nicht-lautverschobene Varianten. Die nicht-lautverschobenen sind in der Überzahl: schwatt wird 17-mal gemeldet und schatt 2-mal. Lautverschoben ist dagegen schwatz, das sich in 4 Fragebögen findet. Eine Gewährsperson gibt als Alternative zu schwarz brun (braun, ohne Diphthongierung) an.

angebrannt

Die häufigste Angabe für angebrannt ist mit 9 Meldungen jebrank. Das mit dem Standarddeutschen identische gebrannt wird 2-mal gemeldet. Je eine Gewährsperson gibt auch gebrank, verbrank, verbrangt, jebrannt, jebrang und verbrennt an. Stärker dialektal geprägt sind die Varianten mit je- statt ge- sowie die palatalisierten mit ng oder nk statt n (jebrang statt jebrannt).

sind ja unten ganz schwarz angebrannt

Die Formulierung „sind ja unten ganz schwarz angebrannt“ wurde jedoch nicht immer wörtlich übertragen: „dä Kookse sünt ja unge ganz schwatt out“ (‚die Kuchen sehen ja unten ganz schwarz aus‘), „der Kok ist unge janz brun gewurde“ (‚der Kuchen ist unten ganz braun geworden‘), „de Kuke sind unge ganz schwatt“ (‚die Kuchen sind unten ganz schwarz‘), „dä ist ever schwat“ (‚der ist aber schwarz‘), „die Kooches hänt onge jo e schwatz Föttche“ (‚die Kuchen haben unten ja ein schwarzes Unter-/Hinterteil‘), „die Köök sind onge am Boam janz schwatt jebrank“ (‚die Kuchen sind unten am Boden ganz schwarz gebrannt‘), „de Kook es peak schwatt jeworde“ (‚der Kuchen ist pechschwarz geworden‘).

Fügt man die häufigsten Belege zu einem Satz zusammen, ergibt sich: „Dat Füer wohr te heet, de Koke sen jo onge janz schwatt jebrank.“

Historischer Beleg

„Datt Führ wohr te stärk, te Kohke sennt joh onge janz schwatz gebrangkt.“

Der größte Unterschied zum historischen Beleg ist sicherlich, dass das Feuer nicht zu heiß, sondern zu stärk ‚stark‘ war. Semantische Veränderungen, d.h. Veränderungen in der Bedeutung, sind jedoch nicht ungewöhnlich. Unter den Übertragungen von „heiß“ finden sich in der Umfrage von 2022 schließlich auch wärm ‚warm‘ und huch ‚hoch‘.

3. Er isst die Eier immer nur ohne Salz und Pfeffer

er

Häufige Übertragungen des Personalpronomens er sind he/(14-mal) und de/(19-mal, wörtlich ‚der‘). er wird 3-mal gemeldet, eh und ä je 1-mal.

isst

Auch hier stehen Belege für lautverschobene und nicht-lautverschobene Varianten nebeneinander. Am häufigsten gemeldet wird et(t), nämlich 13-mal. Die zweithäufigste Meldung it(t), in 5 Fragebögen vertreten, ist ebenfalls nicht lautverschoben, wie auch die selteneren Meldungen ieat, eet, eat und ött, je 1-mal vertreten. Die lautverschobenen Varianten, die von Gewährspersonen genannt werden, sind iss (2-mal) und isst (1-mal).

die

10-mal erfolgt die Meldung von die, 13-mal von de. Eine Gewährsperson gibt der an, eine lässt den Artikel weg.

Eier

Große Einigkeit herrscht bei der Frage, wie Eier in der Erkelenzer Börde bezeichnet werden: 25-mal wird Eier gemeldet, einmal der Diminutiv Eikes.

immer

Je 9-mal werden immer und emmer gemeldet. Eine Variante davon lautet ömmer, wie eine Gewährsperson angibt. Ebenfalls einmal belegt ist alwächs (vgl. eng. always), während vier Gewährspersonen das Wort in ihrer Übertragung auslassen.

nur

Die häufigste Meldung ist nur mit 7 Meldungen. Von drei Gewährspersonen wird bloß gemeldet, sechs lassen dieses Adverb aus.

ohne

21 Gewährspersonen nennen ohne, drei eine Variante davon: oane.

Salz

Salz, eine lautverschobene Variante, ist mit 22 Meldungen die häufigste. Deutlich seltener sind Salt (3-mal) und Sot (1-mal).

und

11 Gewährspersonen melden un, 7 und, 5 on und 2 en.

Pfeffer

Der Großteil der Belege ist nicht lautverschoben. Am häufigsten wird Peeper/Pääper genannt (10-mal), dann Pepper, Pieäper (jeweils 2-mal), Piaper, Perper und Peiper (je 1-mal). Der einzige Beleg, der zumindest teilweise lautverschoben ist, ist Pääfer, der ebenfalls 1-mal gemeldet wird.

Weitere Varianten

Eine Angabe für eine Umschreibung von „ohne Salz und Pfeffer“ lautet blank.

Eine Gewährsperson gibt für diesen Satz die folgende Übertragung an: Ä det sich ke Salz en Peiper bruche (‚Er tu sich kein Salz und Pfeffer brauchen‘).

Die Zusammensetzung der häufigsten Nennungen resultiert in „De ett de Eier immer nur ohne Salz un Peeper".

Historischer Beleg

„Hä-e ett te Eier immer ohne Salz unn Pä-eper."

Die Unterschiede zwischen dem historischen Beleg und der Kombination der häufigsten Angaben von 2022 sind marginal und vor allem auf verschiedene Schreibweisen zurückzuführen. Da es keine Rechtschreibregeln für Dialekte gibt, ist genau das zu erwarten.

4. Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein auszutrinken, Du musst erst noch etwas wachsen und größer werden.

du

Alle Gewährspersonen geben du an.

bist

Die am häufigsten genannte Variante ist bes(s) (16-mal), gefolgt von bis(s) (7-mal) und bös(s) (3-mal). Je einmal genannt werden best und bos.

noch

Alle Gewährspersonen geben noch an.

nicht

16 Gewährspersonen nennen net, eine nit.

groß

Die meisten gemeldeten Varianten sind nicht lautverschoben: jruet (5-mal), guet (3-mal), grot (2-mal), gruut (2-mal), jrut und jruot (je 1-mal). Nur jruoß (1-mal) weist die zweite Lautverschiebung auf. Es fällt auf, dass die dialektaleren Formen mit j im Anlaut und die standardnäheren mit g etwa gleich häufig vertreten sind.

genug

jenoch ist mit 11 Belegen am häufigsten vertreten. Es folgen genoch (3-mal), genuch und enoch (je 1-mal).

um

Die Angaben zu „um“ lassen sich in zwei Kategorien einteilen:


Zu (1): öm wird 13-mal genannt (13-mal), om und um je 4-mal.

Zu (2): Die nicht-lautverschobene Variante för te/de wird 3-mal gemeldet, för zu 1-mal. Sätze mit für zu zu bilden ist in rheinischen Dialekten verbreitet (sogenannte finale Infinitivsätze).

eine

Hier herrscht fast Einigkeit: 19 Personen geben en an, nur eine Gewährsperson überträgt den unbestimmten Artikel als die, also die standarddeutsche Variante des bestimmten Artikels.

Flasche

„Flasche“ wurde bereits im ersten Teil des Fragebogens abgefragt. Es überrascht daher nicht, an dieser Stelle 21-mal Fläsch und 1-mal Flasch zu lesen. Auch die Personen, die im ersten Teil Pulle angeben, entscheiden sich in diesem Kontext für Fläsch.

Wein

15 Gewährspersonen geben Wihn/Wien/Win an, 8 Wing und eine Wein. Die häufigste Variante weist keine Diphthongierung auf, wie es für südniederfränkische Dialekte zu erwarten ist. Wing hat die gleiche Eigenschaft, ist dazu aber auch velarisiert. Südniederfränkisch liegt zwischen dem kleverländischen Dialektgebiet im Norden und dem ripuarischen im Süden. Die Velarisierung ist im Ripuarischen weit verbreitet, im Kleverländischen jedoch nicht. Als Übergangsgebiet zwischen diesen beiden Dialekträumen weist das Südniederfränkische daher Mischformen auf.

auszutrinken

Um das Verhältnis von lautverschobenen und nicht-lautverschobenen Elementen zu verdeutlichen, wird auszutrinken in die Bestandteile aus, zu und trinken aufgeteilt.


Gemeldet werden ut (13-mal), us (4-mal) und aut (1-mal). Die Formen mit t sind nicht lautverschoben. Der Diphthong au ist die diphthongierte Variante von u. Die drei genannten Varianten sind also alle unterschiedlich dialektal. In 5 Fragebögen fehlt der Bestandteil aus-.


Am häufigsten vertreten ist ze (13-mal), es folgen zu (7-mal), te (5-mal) und to (2-mal). z ist die lautverschobene Variante von t. An dieser Stelle wählen die Gewährspersonen also vor allem die lautverschobene Lautung.


Auch der Wandel von germ. *d zu ahd. t ist Teil der Zweiten Lautverschiebung (Vgl. eng. day, nhd. Tag), der die mittel- und niederdeutschen Dialekte nicht erfasst hat. Fast alle genannten Varianten in der Übertragung von trinken in den Dialekt der Erkelenzer Börde sind unverschoben: drenke/dränke (13-mal), drinke (11-mal) und drönken (1-mal). Eine Ausnahme bildet trenke (1-mal). Insgesamt sind also die nicht-lautverschobenen Varianten hier die häufigeren. Es gibt aber viele Mischformen wie utzedrenke.

musst

Die Mehrheit der Gewährspersonen gibt moss an (14-mal). Außerdem werden muß/muss (5-mal), möss (2-mal), musse, most und mußt (je 1-mal) gemeldet. Diese Formen sind alle lautverschoben (vgl. ahd. muoʒan, as. mōtan).

erst

Am häufigsten wird irsch/iersch genannt (8). Es fällt jedoch auf, dass die Bandbreite an verschiedenen Vokalen für dieses Item recht groß ist: so liest man in den Fragebögen unter anderem esch, iarch, earsch und eiesch (je 1-mal). Vier Gewährspersonen lassen eine Entsprechung von „erst“ aus.

etwas

Ganze 20-mal wird jet angegeben, einmal in der Variante jöt. Dieses kleine Wort bedeutet sowohl ‚etwas, irgendein Ding‘, als auch ‚ein bisschen‘ ("jet" im Rheinischen Wörterbuch). In 5 Fragebögen wird es ausgelassen.

wachsen

Von einer Gewährsperson abgesehen melden alle für ‚wachsen‘ wahse, waße, wasse oder wase. Die einzige Ausnahme bildet waachse. Die Vereinfachung der Konsonantenfolge wie in ‚wachsen‘ ist ein typisches Merkmal des Südniederfränkischen.

größer

10-mal wird grötter gemeldet. Daneben stehen jrötter und groeter mit je einer Meldung. Eine Gewährsperson gibt auch die lautverschobene Variante jrüsser an. Im Gegensatz zu den Meldungen zu ‚groß‘ ist der dialektale Anlaut j hier seltener als der standardnähere g.

werden

Die meisten angegebenen Varianten enthalten einen Diphthong: werde (12-mal; der Diphthong wird nicht geschrieben, jedoch ist ein vokalisches r zu erwarten), wiade (2-mal), weade (1-mal) und wiäde (4-mal). Es gibt zwei davon abweichende Meldungen: wede und wedde (je 1-mal genannt).

klein

Einige Gewährspersonen übersetzen den Satz statt mit ‚nicht groß genug‘ mit ‚zu klein‘. 6 nennen kleen, eine klein.

Setzt man die häufigsten Varianten zusammen, ergibt sich der Satz folgendermaßen: „Du bes(s) noch net jruet jenoch öm en Fläsch Wien utzedränke, du moss iesch noch jet wahse un grötter werde.“

Dass für ‚groß‘ die dialektalere Variante mit j im Anlaut, also jruet, bevorzugt wird, für ‚größer‘ aber die standardnähere grötter, muss nicht systematisch sein. Vielmehr zeigt der Befund, dass beide Anlaute im Dialekt vorkommen.

Historischer Beleg

Im historischen Wenkerbogen lautet die Übersetzung des Satzes in den Keyenberger Dialekt „Du-e böß noch net gru-et jenoch, ömm ehn Fläsch Wihn ut-tedrenke, du-e moß i-eder noch jet waße unn grötter wä-ede.“ i-eder für ‚erst‘ mag ungewöhnlich anmuten, doch ist das Wort leicht erklärt: es ist die dialektale Form von ‚eher‘ und kann auch wie das standarddeutsche ‚zuerst‘ verwendet werden. Ein Blick ins Niederländische, das den rheinischen Dialekten sehr ähnelt, macht die Verwandtschaft deutlich: dort heißt ‚früher; eher‘ eerder.

5. Hinter unserem Haus standen drei schöne Apfelbäumchen mit roten Äpfelchen

hinter

18 Gewährspersonen melden henger/hänger, 8 hinger und eine hinge. All diese Formen weisen die sogenannte Velarisierung auf, eine Eigenschaft, die der Dialekt der Erkelenzer Börde mit anderen südniederfränkischen und auch ripuarischen Dialekten teilt.

unserem

Die Meldungen zu „unserem“ können in zwei Kategorien eingeteilt werden, nämlich anhand der Unterscheidung zwischen Formen mit Kasusmarkierung und solchen ohne: oserem (9-mal), osser (3-mal) und usem (1-mal) mit Kasusmarkierung, daneben os(s) (7-mal) und die Variante us (1-mal) ohne. Insgesamt gibt es also mehr Formen, die einen obliquen Kasus (das heißt, nicht das Subjekt betreffend) markieren als Formen ohne sichtbaren Kasus. Außerdem sind die Varianten mit o statt mit u weiter verbreitet.

Haus

Alle Gewährspersonen geben Hu(u)s an.

stehen

Ganze 20 Meldungen gibt es für stond/stont, daneben jeweils eine für ston und stand. Es handelt sich trotz seiner Ähnlichkeit nicht um das Präteritum „standen“, denn in südniederfränkischen Dialekten enthält die 3. Person Plural auch im Präsens ein d oder t ("stehen" im Rheinischen Wörterbuch) .

drei

Ähnliche Einigkeit herrscht bei der Übertragung des Zahlwortes „drei“: 21 Gewährspersonen geben dre(e) an und zwei dri.

schöne

Gemeldet werden schönn (9-mal), schön (4-mal) und schöne (7-mal). In 6 Fragebögen wird das Wort ausgelassen.

Apfelbäumchen

aufgeteilt in seine Wortbestandteile


mit

Der Vokal kann variieren: mit (9-mal), met (14-mal) und möt (5-mal). Laut Rheinischem Wörterbuch ("mit" im Rheinischen Wörterbuch) sind all diese Varianten in der Gegend um Erkelenz und angrenzenden Regionen verbreitet.

roten

rue wird am häufigsten gemeldet (21-mal). Daneben gibt es auch ruhem (1-mal), ruede (2-mal), rode (1-mal) und rute (1-mal). Die Abwesenheit eines Konsonaten in der Wortmitte ist im gesamten rheinischen Dialektgebiet typisch für dieses Wort.

Äpfelchen

In 18 Fragebögen ist Äpelkes zu lesen. Die Variante Appelkes wird 1-mal genannt. Ebenfalls im Diminutiv, aber lautverschoben, sind Äpelche und Äppel(s)cher (je 3-mal). Zudem wird auch Äppel genannt (2-mal). Auffällig ist, dass einige Gewährspersonen die Diminutivmarker -ke (ohne Lautverschiebung) und -(s)che (mit Lautverschiebung) innerhalb des Satzes mischen.

Die häufigsten Varianten ergeben miteinander kombiniert also „Henger oserem Hus stond dre schönn Appelbömkes met rue Äpelkes“.

Historischer Beleg

Im historischen Wenkerbogen aus Keyenberg findet sich diese Übertragung: „Henger ossem Huhs stonnt dre-ih schönn Appelbömkes möt rue Äppel.“

Auch hier weisen die modernen und historischen Befunde große Ähnlichkeiten auf. Einzig der Diphthong e-i im Wort für ‚drei‘ scheint geschwunden zu sein.

Eine Gewährsperson übersetzt „hinter unserem Haus“ frei mit „im Bonjet“. Ein Bonjet ist ein Baumgarten, in manchen Dialekten auch „Bongert“ genannt.

6. Habt ihr kein Stückchen Seife auf dem Tisch gefunden?

habt

Am häufigsten wird hat(t) genannt (17-mal), danach folgen hätt (3-mal), habt (2-mal) und hot (1-mal). Zwei Gewährspersonen übertragen den Satz nicht in die 2. Person Plural, sondern in die 2. Person Singular (du) und geben haste bzw. häste an.

ihr

Es besteht eine Varianz bezüglich des Anfangsvokals. Häufiger vertreten ist er/err/ehr (14-mal), etwas seltener ihr/irr (6-mal).

kein

Der Großteil der Gewährspersonen gibt ke(e) an (20-mal), weitaus weniger melden keen (2-mal), kei und kein (je 1-mal).

Stückchen

Die Angaben für „Stückchen“ variieren bezüglich des Stammvokals, der An- bzw. Abwesenheit des Diminutivs und der Lautverschiebung. Den Stammvokal ö weisen diese Formen auf: Stöckske (9-mal), Stöck, Stöcke und Stöcksche. Mit ü stehen Stück, Stückche (je 1-mal) und Stückske. Wie bereits in anderen Sätzen erläutert ist auch hier zu sehen, dass einige Gewährspersonen den Diminutiv ohne Lautverschiebung, also -ke, wählen, und andere den mit, das heißt -(s)che.

Seife

Seep/Seeb wird 17-mal genannt, Seef 3-mal und Sief 1-mal. Seep/Seeb ist die nicht-lautverschobene Variante (vgl. nl. zeep, eng. soap), Seef und Sief haben die Lautverschiebung mitgemacht.

auf

Alle Gewährspersonen geben op an.

dem

der/derr/dr taucht in 15 Fragebögen auf, de in 3.

Tisch

Dö(ö)sch wird 21-mal genannt, Tösch 2-mal und Desch 1-mal. Während sich alle Varianten ähneln, sticht doch Tösch hervor, da diese Form im Gegensatz zu den anderen lautverschoben ist.

gefunden

Etwa gleich häufig werden gefonge (11-mal) und jefonge/jevonge (13-mal) genannt. Eine Variante mit abweichendem Stammvokal tritt jedoch auch auf: jefunge/jevunge (2-mal). Alle Formen sind velarisiert.

Die am häufigsten genannten Meldungen ergeben zusammen diesen Satz: „Hat err ke Stöckske Seep op der Dösch jefonge?“

Historischer Beleg

Im historischen Wenkerbogen ist zu lesen: „Hadd ihr jeh Stückstke Sehp umm Düsch fonge?“ Auffällig ist, dass ‚kein‘ als jeh erscheint. Der Anlaut ist unerwartet. Laut Rheinischem Wörterbuch ("kein" im Rheinischen Wörterbuch) bestanden auch im Bereich des Südniederfränkischen die Formen mit g und k am Wortanfang bis ca. 1880 nebeneinander, danach hat sich aber die Variante mit k etabliert. Da im Dialekt der Halbvokal j den Konsonanten g ersetzen kann, ist es möglich, dass es sich bei jeh um eine ältere dialektale Variante von geh ‚kein‘ handelt.
Ein weiterer deutlicher Unterschied ist, dass das Partizip gefunden keine Vorsilbe aufweist. In den neuen Befunden wird diese nie weggelassen.

7. Mein lieb‘ Kind, du musst erst noch ein bisschen wachsen und größer werden und laufen lernen

mein

Die häufigste Angabe ist mi (13-mal), es folgen me(e) (7-mal) und min (1-mal). 4 Gewährspersonen lassen das Personalpronomen aus.

lieb‘

Der Großteil der Gewährspersonen meldet leef oder eine Variante (lef, lev, leev) (20-mal), je einmal sind liev und leve zu lesen. In 2 Fragebögen ist das Wort ausgelassen.

Kind

Die Angaben zu „Kind“ ähneln einander, sind aber in zwei Kategorien einzuteilen: mit hörbarem Plosiv (Verschlusslaut) im Auslaut und ohne. Die erste Gruppe ist die größere: Kenk (15-mal), dessen Variante Keenk (1-mal) und Kink (4-mal). In der zweiten finden sich Keng (3-mal) und King (2-mal). Wie zu erwarten tritt in allen Fällen die Velarisierung auf.

bisschen

Erneut sind die Angaben in zwei Gruppen einzuteilen: biske (9-mal) und seine Varianten besske (2-mal), bessje (1-mal), bissje (1-mal) sowie bitchen (1-mal) auf der einen Seite, jet (8-mal) auf der anderen. Die nicht-lautverschobenen Varianten werden hier bevorzugt. Im vorherigen Satz mit der identischen Formulierung „du musst erst noch etwas wachsen und größer werden“ gaben die meisten Gewährspersonen jet den Vorzug.

laufen

In Bezug auf die Lautverschiebung gibt es auch bei diesem Wort eine klare Tendenz: die nicht-lautverschobenen Varianten lo(o)pe (22-mal), lopen und loppe (je 1-mal) sind deutlich häufiger vertreten als das lautverschobene loofe (1-mal).

lernen

Hier gibt es ebenfalls wenig Variation: 21 Gewährspersonen nennen liere/liäre und 2 leare.

Sonstiges

Ein interessantes Detail bezüglich der Satzstellung ist, dass 4 Gewährspersonen ein „et“ ‚es‘ hinzufügen, wie in diesem Satz aus einem Fragebogen aus Keyenberg: „Mi lef Kenk, du mos et ech noch e biske waße on gröter wiede om lope de liere“ (Hervorhebung durch die wissenschaftliche Referentin).

Die häufigsten Angaben ergeben zusammengefügt diesen Satz: „Mi leef Kenk, du muss iesch noch e biske wahse un grötter werde un lope liere.“

Historischer Beleg

Zum Vergleich die historische Übertragung: „Mih lehv Kengk, du moß ihder noch eh wennig wahsen und grödter wähden und lohpen lieren.“

Statt ‚ein bisschen‘ wurde hier ‚ein wenig‘ gewählt, was die Bedeutung jedoch nicht verändert.

8. Seid so gut und bringt mir eine Flasche frisch‘ Wasser herauf

seid

Der Vokal kann zwischen i und e variieren: sit (9-mal) und sidde (1-mal) auf der einen Seite, sed/set (6-mal) und see (1-mal) auf der anderen.
Ein Teil der Gewährspersonen hat den Satz in den Singular („sei“) übertragen. Die verwendeten Verbformen weisen die gleiche Variation im Vokalismus auf: bes (4-mal), bis (2-mal) und bisse (1-mal).
Eine Gewährsperson lässt den ersten Teil des Satzes, „seid so gut (und)“, aus. Eine weitere ersetzt diesen mit jank ens ‚geh mal‘.

so

In den meisten Fragebögen findet sich das dem Standarddeutschen identische so (21-mal). Vereinzelt werden aber auch eso und suu (je 2-mal) angegeben.

gut

Die Gewährspersonen melden größtenteils jo(o)t/jo(o)d (22-mal). Die Variante mit einem anderen Vokal, jut, tritt marginal auf (2-mal).

bringt

Da einige Gewährspersonen wie bereits beschrieben den Satz im Singular statt im Plural aufgefasst zu haben scheinen, wäre an dieser Stelle zu erwarten, dass die gewählte Verbform dies wiederspiegelt. Dem ist jedoch nur eingeschränkt so. brengt (9-mal), als Form der 2. Person Plural erkennbar, und breng (14-mal), augenscheinlich die Form der 2. Person Singular, sind fast gleich häufig vertreten.

mir

Während die standarddeutsche Form im Dativ steht, ist man sich in der Erkelenzer Börde einig, dass das Verb bringen im Dialekt den Akkusativ verlangt. Wie gewohnt gibt es auch hier eine Variation zwischen i und e: me(s)ch (15-mal) und mi(s)ch (11-mal). Zwei Gewährspersonen lassen das Pronomen aus.

Flasche

Die einzigen Angaben hierzu sind Fläsch (20-mal) und Flääsch (5-mal). Damit unterscheidet sich das Ergebnis von Satz 4, da dort auch Flasch genannt wurde.

frisch

Einmal mehr ist zu entdecken, dass i und e variieren können: fresch/vresch (9-mal) steht neben frisch (8-mal). Zwei Gewährspersonen lassen dieses Wort entfallen.

Wasser

Die häufigste Meldung ist Water (19-mal), daneben gibt es auch Waaser (4-mal). Damit wird wieder der nicht-lautverschobenen Form der Vorzug gegeben.

herauf

Fast alle Gewährspersonen melden erop (21-mal) oder eine Variante davon: herup und erup (je 1-mal). Einzig ran (2-mal) zeigt eine andere Präposition.

Fügt man nun die häufigsten Meldungen zusammen, erhält man den Satz: „Sit so joot und brengmech en Fläsch fresch Water erop.“

Historischer Befund

Zum Vergleich der historische Befund: „Sede so gohd unn brängkt mech ehn Fläsch frösch Waater erop.“

9. Wir haben es ihm erzählt

wir

we(e)r(r) (14-mal), wir (7-mal) und wör (1-mal) werden am häufigsten gemeldet. Daneben stehen mir (4-mal) und mer (1-mal), die vor allem im südlichen Rheinland häufiger auftreten. Ein Einfluss aus anderen Dialektgebieten ist jedoch nicht verwunderlich.

haben

Mehrheitlich wird hant/hand gemeldet (19-mal), außerdem hänt (3-mal), hat, ham, hond und haben (je 1-mal).

es

Sehr große Einigkeit herrscht hier: 27 Gewährspersonen geben et an, nur eine entscheidet sich für dat.

ihm

In den meisten Fragebögen ist eine Form des Personalpronomens zu lesen: em (14-mal), öm (8-mal), ihm (2-mal), im, hem und eem (je 1-mal). Außerdem wird dreimal eine Form des Demonstrativpronomens gemeldet: dem/dämm/demm (3-mal).

erzählt

Die Meldungen zu diesem Wort lassen sich wieder in nicht-lautverschoben und lautverschoben einteilen: vertallt (7-mal), vertällt (7-mal) und vortellt (1-mal) weisen keine Lautverschiebung auf im Gegensatz zu verzallt (6-mal), verzällt (6-mal) und erzallt (1-mal).

Zusammengefügt ergeben die häufigsten Meldungen: „Wer hant et em vertallt/vertällt.“

Historischer Beleg

Dem historischen Wenkerbogen ist diese Übertragung in den Keyenberger Dialekt zu entnehmen: „Wir hant et ömm verzdellt.“

10. Es kommt mir vom Herzen!

kommt

Alle Gewährspersonen geben die gleiche Antwort: „kommt“ (3. Person Singular Präsens) heißt in ihrem Dialekt kütt.

mir

Der Großteil der Gewährspersonen gibt den Akkusativ an: me(s)ch (13-mal). Aber diesmal ist auch der Dativ mer (3-mal) vertreten. In 8 Fragebögen fehlt das Pronomen.

vom

Die Variation zu diesem Item reicht von von (11-mal), vom (8-mal) über van (5-mal) zu von et (2-mal), van et und vun (je 1-mal).

Herzen

Am häufigsten wird Hetze/Hezze/Hätze gemeldet (11-mal). Daneben finden sich auch die Varianten Hätz/Hetz (4-mal) und Heeze (1-mal). Hier ist die lautverschobene Variante klar häufiger vertreten als die nicht-lautverschobene, denn Hatt wird nur 2-mal gemeldet.

Die meistgenannten Meldungen ergeben zusammengesetzt also: „Et(t) kütt me(s)ch von Hätze.“

Historischer Beleg

Im historischen Wenkerbogen lautet die Übertragung: „Ett künnt mech vann Häzzen.“ Der Wegfall von n vor t und am Wortende, den wir hier beobachten können, ist ein häufiger Lautwandel.