LVR-Institut für Landeskunde
und Regionalgeschichte
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Wenn die Jecken protestieren

Lieber Weiberfastnacht ausgelassen in der rapppelvollen Kneipe tanzen oder sich am Karnevalssonntag auf einer Sitzung amüsieren? Was ist das Highlight in Ihrem individuellen Sessionskalender? Das Konzert mit der kölschen Lieblingsband oder der lokale Umzug, wenn man sich stolz im selbstgemachten Fantasiekostüm präsentiert? Das Schöne ist: Sie müssen sich gar nicht entscheiden! Denn Karneval ist ein prall gefüllter Kamellebüggel, aus dem sich jeder und jede das aussuchen darf, was er oder sie am liebsten mag. Und wenn Sie am liebsten den ganzen Büggel mitnehmen möchten, geht das natürlich auch!

Der Kern des Karnevals: Gesellschaftskritik und verkehrte Welt

Ein Mann mit bunter Kappe hält eine Protesttransparent, das aus einem T-Shirt gemacht wurde, an dem Shirt baumeln Geschenkpäckchen. Kreativer kölscher Appell für den "Weltfridde". Dieser Kölner hat aus einem T-Shirt ein Spruchtransparent gemacht: "Die Päckchen daran sollen sagen, dass Frieden das größte Geschenk ist." Foto: Gabriele Dafft/LVR

In dem Büggel gibt es ein paar Elemente, die den Fastelovend quasi im Innersten zusammenhalten – Gemeinschaftsgefühl und Lebensfreude gehören beispielsweise dazu. Kern des Karnevals, das ist aber vor allem die temporäre Auszeit von sonst üblichen Regeln, das Außerkraftsetzen der bestehenden Ordnung und die Umkehr der Machtverhältnisse. An Karneval haben die Narren und Närrinnen das Sagen und dürfen alldenjenigen den Spiegel vorhalten, die sonst bestimmen, wo’s lang geht. Die Jecken karikieren und kritisieren Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft oder dem öffentlichen Leben und nehmen unliebsame gesellschaftliche Entwicklungen und zweifelhafte Trends auf die Schippe. Die Persiflage-Wagen bei den Zügen oder die Büttenreden sind ein gutes Beispiel dafür. Karneval ist das Ventil, mit dem die Jecken ihrem Unbehagen am Lauf der Dinge augenzwinkernd Luft machen können. Das subversive Element ist schon seit Beginn des Karnevals eine wesentliche Idee. Im organisierten Karneval waren es allerdings vor allem die männlichen Narren, die sich dieses Recht nahmen, sie hatten die Deutungs- und Gestaltungsmacht. Der Karneval blieb lange eine Männerdomäne. Daran hat sich viel geändert und die Entwicklung ist nicht abgeschlossen – aber das ist eine andere Geschichte.


Karneval trifft klassische Protestkultur

In der jüngeren Vergangenheit ging die Funktion des Karnevals als Gesellschaftskritik manchmal unter. Vor allem in der Außensicht und bei denjenigen, die den Karneval aus medial vermittelten Bildern kennen und auf exzessiven Alkoholkonsum, Schunkelseligkeit, Übergriffigkeit oder Brachialhumor reduzieren. Doch im Jahr 2022 war das anders. Da verbreiteten sich am Rosenmontag Bilder, die auch eingefleischten Narren wieder bewusst machten, was der Karneval alles sein kann.

Eien Frau im blauen Frack, mit blauem Zylinder mit gold geschminkten Gesicht Blau und gelb statt "rut un wieß". Im Kölner Karneval dominieren sonst die Farben der Stadt: rot und weiß. Als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine setzten die Jecken bei der Rosenmontagsdemo im Jahr 2022 auf die ukrainischen Landesfarben. Foto: Gabriele Dafft/LVR

Anlässlich des nur wenige Tage zuvor beginnenden Krieges in der Ukraine gab es in Köln statt des Rosenmontagszugs eine Demo, bei der laut Medienberichten rund 250 000 Teilnehmende ein Zeichen für den Frieden setzten. Und zwar mit regionaltypischen Mustern und Mitteln, die flugs mit Elementen der klassischen Protestkultur kombiniert wurden. Bereits Weiberfastnacht hatte sich das Kölner Festkomitee entschlossen, den Rosenmontagszug abzusagen, der ohnehin pandemiebedingt nur eine abgespeckte Version im Rhein-Energie-Stadion gewesen wäre. Stattdessen gab es unter dem Motto “Make FasteLOVEend not War“ eine Demo mit Kundgebung und Musikprogramm auf dem Chlodwigplatz und einen anschließenden Protestmarsch durch die Innenstadt.

Rosenmontagsdemo 2022: Vertraute Handlungsmuster werden umgedeutet

Die terminliche Überschneidung mit dem Kölner Karnevalsgeschehen und jahrelang eingeübte Rituale führten dazu, dass kaum einer der Demonstrierenden ohne Kostüm zu dieser Aktion kam. Viele der Demonstrant*innen integrierten die ukrainischen Landesfarben in ihre Verkleidung. Sei es mit blauen oder gelben Schaumstoffnasen, die an den Mund-Nasen-Schutz oder an die Narrenkappe geklemmt wurden, oder mit einem eigens kreierten aufwändigen Kostüm.

Ein Frau mit Mundnasenschutz und Karnevalskostüm trägt ein Protest-Transparent. Darauf steht in kölscher Sprache: "Wie kutt ihr dann scheeße. Seht ihr nit, dat do Minsche stonn?" In einem identitätsstiftenden Brauch wie dem Karneval kommt natürlich auch die "kölsche Sproch" zum Einsatz. Wenn die Jecken protestieren, greifen sie ebenfalls darauf zurück. Foto: Gabriele Dafft/LVR

Mit Protestschildern oder Transparenten, den klassischen Mitteln bei Demonstrationen, ergänzten vielen Teilnehmende ihr Erscheinungsbild. Die Schilder verkündeten Peace-Botschaften, Kritik an Wladimir Putin und Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Einige der Slogans waren auf Kölsch.

Im Spannungsfeld zwischen Krise und Karneval

Der plötzliche Kriegsausbruch wurde als individuelle und kollektive Erschütterung wahrgenommen, die nicht nur terminlich in den Alltag der Narren hineindrängt, sondern persönliche und gesellschaftliche Wertvorstellungen und Überzeugungen in Unordnung bringt. Ein Wendepunkt, der vielerlei Emotionen auslöste: Fassungslosigkeit, Angst, Ärger, Wut. Gleichzeitig entstand bei vielen Menschen ein starkes Bedürfnis, in irgendeiner Weise ein Zeichen gegen den Krieg zu setzen. Den Karneval zu feiern, wie es ursprünglich vorgesehen war, schien angesichts dieser krisenhaften Erfahrung schlichtweg unmöglich. Mit den Mitteln des Karnevals – in modifizierte Form - haben die Jecken darauf reagiert.

Eine Menschengruppe in grün-gelben Lappenclownkostümen, einige halten Plakate mit Friedensbotschaften Die Rodenkirchener Botterblömcher haben für die Friedensdemo Plakate beschrieben: "Die Kinder haben selbst entschieden, welche Botschaften sie zeigen möchten!" Foto: Gabriele Dafft/LVR Protesttrandparent , das aus einem T-Shirt gemacht wurde. Die Jecken zeigen Kreativität: Nicht nur bei Kostümen. Auch bei Protest-Transparenten für den Frieden. Foto: Gabriele Dafft/LVR

Gespräche des ILR während der Demo und in den Tagen danach gaben exemplarische Einblicke in die Motivationslage der Teilnehmenden und in individuelle Strategien, die sie im Spannungsfeld zwischen Karneval und Krise gefunden haben. „Im Freundeskreis war uns schon am Donnerstag klar, dass wir jetzt eigentlich keine Lust mehr auf Karneval haben. Die Idee einer Demo stand schnell im Raum. Dafür brauchten wir auch was Anderes als unser ursprüngliches Gruppenkostüm“, erzählt eine Demo-Teilnehmerin. Wie auch ihre vier Freundinnen hat sie das Gesicht komplett blau-gelb geschminkt, auf dem Kopf eine blaue Perücke, in der Hand ein Schild: „Stand with Ukraine“. Dieser Gruppe, wie und auch anderen Demo-Teilnehmer*innen ist sehr bewusst, dass sie keinen unmittelbaren Einfluss auf geopolitische Konflikte nehmen können. Doch der Protestzug am Rosenmontag ist als symbolische Intervention hochwillkommen, um Position zu beziehen: Solidarität für die Menschen in der Ukraine, für ein friedliches Zusammenleben und gewaltfreie Konfliktlösung. „An mein Transparent habe ich Geschenkpäckchen gehängt, um damit zu sagen: Frieden ist unser größtes Geschenk, wir müssen dafür eintreten“, erklärte ein Kölner sein kreatives Protest-Hemd mit kölschem Slogan und viel sinngebender Deko (siehe Foto ganz oben).

Regionalität als Bewältigungsstrategie

Dass sich die Demo zu einem Massenphänomen entwickelte, an dem sich Hundertausende beteiligten, verstärkte bei den Akteur*innen das Gefühl, der aktuellen Situation nicht völlig ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Das Aktivwerden angesichts einer neuen, beängstigenden Lage half, eben diese Ängste zu bewältigen. Regionale Handlungsmuster, variiert und situationsgerecht angepasst, trugen ihren Teil dazu bei, in dem Koglomerat aus Emotionen ein Stück Stabilität und Handlungssicherheit wiederzuerlangen. Sie setzten den Rahmen, der Orientierung gab.

Zwei Frauen und ein Mann in rot-weißen Karnevalskostümen haken sich unter. Auf ihren T-Shirts steht: "Make FasteLOVEnd" not War". "Make FasteLOVEnd not War" war das Motto der Rosenmontagsdemo (2022) und dieser drei Jecken. Foto: Gabriele Dafft/LVR

Rituale sind nicht nur ein Weg, um Gefühle zu kanalisieren und zu verarbeiten, sondern auch ein Mittel, um symbolisch Werte zu vermitteln. In den Gesprächen an und nach Rosenmontag wurde deutlich, wie viel es den Befragten bedeutet hat, mit einer Friedensbotschaft nicht alleine dazustehen. Sie setzen darauf, dass die Stimmen von so vielen Demonstrierenden vielleicht doch nicht überhört werden und dass das solidarische Signal den Menschen in der Ukraine Hoffnung gegeben hat. Darüber hinaus zeigten viele Kölner*innen auch einen gewissen Stolz, dass es dem Karneval gelungen war, ein anderes Gesicht zu zeigen und so auch dem zuweilen einseitigen Image des Karnevals etwas entgegen gesetzt zu haben.

Autorin: Gabriele Dafft