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Rosenmontag 1991 – Geburtsstunde des Geisterzugs
Der Streit zwischen dem Irak und dem Emirat Kuwait um ertragreiche Ölfelder und um Staatsgrenzen eskalierte im Sommer 1990. Im August besetzte der irakische Diktator Saddam Hussein Kuwait. Die Vereinten Nationen forderten Hussein auf, seine Truppen aus Kuwait abzuziehen und setzten ihm ein Ultimatum. Hussein ließ das Ultimatum verstreichen mit der Folge, dass die USA eigene Truppen in die Golfregion schickten. Der Zweite Golfkrieg begann schließlich am 17. Januar 1991 und endete mit dem offiziellen Waffenstillstand am 12. April 1991.
Diese internationale politische Krise fällt in die Zeit der Karnevalssession 1990/1991, der Kriegsausbruch sogar in die „heiße Phase“ der Karnevalsvorbereitungen. Mit dem Beschluss des UN-Sicherheitsrats, militärische Aktionen gegen den Irak zu billigen und Soldaten kampfbereit an den Golf zu schicken, war deutlich geworden, dass die Karnevalssession nicht wie sonst unbeschwert und fröhlich verlaufen würde. Die Karnevalsorganisationen in ganz Deutschland diskutierten in zahlreichen Versammlungen darüber, ob der Karneval gefeiert oder abgesagt werden sollte. Die einen befürworteten eine Absage aus Mitgefühl und Anstand. Vielen Jecken war angesichts der Kriegsbilder die Feierlaune vergangen. Angst und Ohnmacht gegenüber der Kriegssituation hatten die Überhand. Die anderen sprachen sich für das Feiern von Karneval aus. Sie beriefen sich auf etablierte Karnevalsmottos und -motive, nach denen Feiern und Humor gerade in Krisenzeiten guttäten und die Resilienz stärkten. Nach zähem, zweiwöchigem Ringen fiel auch in Köln am 21.1.1991 die Entscheidung: Straßenkarneval und somit auch der Rosenmontagszug wurden abgesagt, Saalkarneval durfte in eigenem Ermessen der jeweiligen Vereine stattfinden. Der damalige Festkomitee-Präsident Gisbert Brovot legte es jedem Jecken nahe, für sich selbst über die Teilnahme an Karnevalsveranstaltungen zu entscheiden. Die Karnevalisten hatten nun einen konkreten Status Quo, von dem aus sie neu starten konnten. In den meisten deutschen Karnevalshochburgen war der Karneval ebenfalls abgesagt. Dort herrschte an den tollen Tagen karnevalistische Öde auf den Straßen. In Köln jedoch gestaltete sich die Situation anders!
Seit den 1980er Jahren entwickelte sich in Köln eine alternative Karnevalsszene, die sich bewusst gegen den organisierten Karneval mit seinen starren Regeln stellte. Hier ist besonders die „Stunksitzung“ zu nennen, die kabarettistisch überspitzt die „Prunksitzung“ des Festkomitees aufs Korn nahm. Nun aber trafen „Stunk und Prunk“ zusammen, um für eine gemeinsame Sache zu demonstrieren: für den Frieden!
Was dem organisierten Karneval in den Jahrzehnten durch eine starke Reglementierung bzw. Ritualisierung der Feierformen und Festelemente abhandengekommen war, konnte der alternative Karneval rund um die Mitglieder der Kölner Stunksitzung liefern: eine kreativ-gewitzte Herangehensweise an Brauchformate und Ritualformen, die das inzwischen Herkömmliche neu dachten und gestalteten. Dabei wurden sie maßgeblich unterstützt von der Friedensbewegung, deren Protestformen – Demonstrationszüge, Parolen auf Protestplakaten und selbstgemachter, stark rhythmischer Lärm – den gemeinhin als „ursprünglich“ verstandenen Karnevalsformen nahekamen (wie das wilde, chaotische Umherziehen und Lärmen). Und so kam es, dass am Rosenmontag des Jahres 1991 Mitglieder der Kölner Stunksitzung unter Anführung des Kölner Kabarettisten und Stunksitzungspräsidenten Jürgen Becker nicht auf einem Prunkwagen, sondern mit einem Traktor den Zugweg des abgesagten Rosenmontagszugs entlangfuhren. Der Traktor war versehen mit der Parole „Kein Flönz für Öllig“. Die Friedensparole „Kein Blut für Öl“ wurde damit lokalspezifisch, ironisch-satirisch intellektuell überformt zu „Kein Flönz für Öllig“, also „Keine Blutwurst für Zwiebel“. Damit holten die Stunk-Leute sowohl die Friedensbewegungsmitglieder als auch die Vereinskarnevalisten ab und vereinten sie im gemeinsamen Friedenswunsch. Sprachlicher Witz und ordnungsüberschreitende Ausgestaltung etablierter Brauchelemente ermöglichten diese Einigkeit. Keine Teilnehmergruppe konnte der anderen etwas verübeln. Alle vereinte der Wunsch nach Frieden und Freude, nach Toleranz und Miteinander – ein Zeichen zu setzen, das war das Ziel. Zugleich war dieser neugestaltete Umzug die Geburtsstunde des Kölner Geisterzuges!
In der Regel stellen die Narren die Welt auf den Kopf, durchkreuzen die bestehende Ordnung durch Verkleidung, Maskerade und Schauspiel. Der Krieg in seiner Brutalität wurde als absoluter Ordnungsverlust wahrgenommen. Das ängstigte und führte zu Ohnmachtsgefühlen, zu Depression und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Indem die Jecken mit ihren Parolen und Plakaten, Liedern und Kostümen auf die Straße gingen, forderten sie die Herstellung der Ordnung ein – eigentlich ein dem karnevalistischen Treiben entgegenstehendes Verhalten.
Protestplakat beim Geisterzug im Jahr 2000. (Foto: Gabriele Dafft/LVR)
Wieso schafften es gerade die Kölner*innen, den Karneval zur Friedensdemonstration umzugestalten? In Köln existiert durch den tief verankerten Karnevalsbrauch ein geeignetes abrufbares Idealbild von der „jecken Volksseele“, die sich in einem Fest verbindet. Eingeübte Handlungen und Brauchvorgaben, bekannte Lieder und Parolen, aber auch die bewiesene Wandlungsfähigkeit des Brauchkomplexes Karneval unterstützten die Kölner Entwicklung. Wo andernorts Sprachlosigkeit über den Krieg, das Leid, den Tod und die Trauer bestand, gab es in Köln Parolen und Lieder, die die Kölner Bürger*innen sprachfähig machten. Das Lied „Wir klääve am Lääve“ von der Kölner Band „Bläck Fööss“ (1984) ist ein Beispiel dafür. „Wir kleben am Leben“ – besser kann die Sehnsucht nach Leben nicht ausgedrückt und der Depression, Angst und Ohnmacht etwas entgegengesetzt werden. Lieder wie dieses halfen den Kölner*innen sprachfähig zu bleiben, sich ihrer selbst in der Gruppe zu versichern und damit raus aus dem Ohnmachtsgefühl hinein in die Aktion zu kommen – eine Möglichkeit, Krisen zu bewältigen. Der Karneval war in diesem Sinne 1991 eine Form der Krisenbewältigung – im doppelten Sinne: Zum einen als Teil des öffentlichen Bewältigungsaktes im Umgang mit dem Golfkrieg und zum anderen als Chance, die interne Krise im Kölner Karneval zu bewältigen.
Die kreative, spontane und unorganisierte alternative karnevalistische Friedensdemonstration am Rosenmontag 1991 war der Startschuss für eine Erneuerung des Kölner Karnevals aus sich selbst heraus. Die von den Intellektuellen in Friedensbewegung, alternativem und organisiertem Karneval spontan gewandelten Brauchelemente überzeugten so sehr, dass sich im Herbst 1991 der Verein „Ähzebär un Ko“ gründete, um diese Form von Karnevalsumzug bzw. politischer Demonstration fortzusetzen. 1992 zog dann zum ersten Mal der Geisterzug durch Köln.
Seit nun mehr als 30 Jahren gehört der Geisterzug fest ins Repertoire der bunten Karnevalstage. Bis heute ist er eine Mischung aus Karneval und politischer Demonstration. Die Mitziehenden nutzen den Geisterzug, um auf Krisen in Politik, Umwelt und Gesellschaft hinzuweisen und der eigenen Sorge darum Ausdruck zu verleihen. Der Geisterzug ist damit eine Form der friedlichen Meinungsäußerung, Elemente des Karnevals werden politisch überformt. Der als wenig politisch geltende Kölner Karneval hat damit neben der Stunksitzung ein weiteres politisch orientierteres, aber gleichzeitig „volksnahes“ und niedrigschwelliges Format gefunden. Aus der Krise 1991 ist etwas Neues entstanden ein fester Bestandteil im Kölner Karnevalsgeschehen, der heute nicht mehr wegzudenken ist.
Der diesjährige Geisterzug fand übrigens am 03. Februar unter dem Motto „"Mer klävve am Lävve - Jeister för hück un murje" (Wie kleben am Leben – Geister für heute und morgen) statt.. Mit dem Untertitel „Mir fiere politisch“ wird der Demonstrationscharakter noch einmal in den Vordergrund gestellt. Ziel der Teilnehmer*innen ist es, friedlich, bunt und laut für Weltoffenheit, Toleranz, Verständnis und friedliches Miteinander einzutreten.
Autorin: Lisa Maubach
Literatur:
Hildegard Brog: Was auch passiert: D`r Zoch kütt. Die Geschichte des rheinischen Karnevals. Frankfurt/New York 2000.
Michael Euler-Schmidt/Marcus Leifeld: Der Kölner Rosenmontagszug 1949–2009. Köln 2009.
Werner Mezger/Wolfgang Oelsner/Günter Schenk: Wenn die Narren Trauer tragen. Fastnacht, Fasching und Karneval und der Golfkrieg. Ostfildern 1991.
Monika Salchert: Kölner Karneval seit 1823. Köln 2022.