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Karneval trotz Flutkatastrophe – Schwenem Alaaf!

„Morgen zusammen, Alaaf! Es ist schon wieder so weit, wir haben schon wieder Karneval hier in Schweinheim! Wissen Sie, wir haben gedacht, trotz der Pandemie und trotz der Jahrtausend-Flut machen wir wieder unseren Karneval! Hier sieht es zwar aus wie Kraut und Rüben, aber wir müssen das machen, wir brauchen das für uns!“

Mit diesen Worten begrüßt die Protagonistin Maria Kleingebaeck – eine ältere, schrullige Dame, gespielt von Markus Freischem, einem echten „Schwenemer Jung“ – die Zuschauerinnen und Zuschauer des YouTube-Videos „Karneval in Schweinheim 2022“.

Maria Kleingebaeck, eine schrullige, ältere Dame und Protagonistin des Videos, liegt im Fenster, das mit Luftballons geschmückt ist, und wartet auf den KArnevalsumzug. Maria Kleingebaeck wartet auf den Zooch. (Foto: Markus Freischem)

Der kleine Euskirchener Ortsteil Schweinheim mit etwas mehr als 400 Bewohner*innen ist schwer von der Flutkatastrophe im Juli 2021 betroffenen. In Nordrhein-Westfalen traten damals fast alle Nebenflüsse und -bäche des Rheins mit teils historischen Höchstständen über die Ufer, was zu schweren Sturzfluten und Überschwemmungen führte. Euskirchen Schweinheim musste aufgrund der einsturzgefährdeten Steinbachtalsperre für mehrere Tage evakuiert werden. Die Strom- und Trinkwasserversorgung, sämtliche Mobilfunknetze und die Verkehrsinfrastruktur fielen in weiten Teilen aus oder wurden zerstört. Fast alle Haushalte des kleinen Ortes haben in unterschiedlichem Maße Schaden genommen: Viele Häuser, Straßen und der Dorfplatz wurden zerstört. Bis heute sind die enormen Auswirkungen der Flut deutlich zu erkennen.

Ende Februar 2022, gute sieben Monate nach der Flutkatastrophe, stand Karneval vor der Dorftür. Die Umstände würden vermuten lassen, dass ein so ausgelassener und fröhlicher Brauch wie der Karneval ausfallen muss. Aber nein – trotz der immensen Auswirkungen der Flut und der damals noch sehr angespannten pandemischen Lage entschlossen sich die Menschen in Schweinheim dazu, einen Karnevalsumzug durchzuführen und dabei ein paar fröhliche Stunden zu verbringen! Etwa zwei Wochen vor Beginn des Straßenkarnevals fand der Umzug und gleichzeitige Videodreh statt und es ertönte mehrfach und laut: Schwenem Alaaf! Die Zuschauer*innen des Videos verfolgen den „Zooch“ gemeinsam mit Maria Kleingebaeck, die in ihrem geschmückten Wohnzimmerfenster liegt. Anders als in normalen Jahren, fand der Umzug recht abgespeckt statt. Einzelne Gruppen, häufig Familien, gingen in großen Abständen durch die noch immer zerstörte Schweinheimer Straße. Größere Umzugswagen hätten in der damaligen Zeit nicht passieren können. Im Video erklärt die Protagonistin in bester Büttenreden-Manier: „Ich habe auch Konfetti mitgebracht, um ein bisschen Sauerei zu machen, muss man ja – fällt ja nicht auf!“ Während Konfetti üblicherweise bei vielen ordnungsliebenden Menschen auf große Ablehnung stößt, erregt es in der Zeit nach der Flutkatastrophe mit Straßen voller Schmutz und Dreck keinerlei Aufmerksamkeit. In diesem Sinne: Konfetti raus und Alaaf!

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Doch wieso betreiben die Schweinheimer*innen so kurz nach der Flutatastrophe einen solchen Aufwand, um ein bisschen Karneval „zu feiern“? Maria Kleingebaeck nennt gleich zu Beginn des Videos einen triftigen Grund: „Wir brauchen das für uns!“ Betrachtet man den Karneval als Ritual, lassen sich verschiedene kulturelle Funktionen ausmachen: Neben eskapistischen Erfahrungen, der Vermittlung von Sicherheit und einer identitätsstiftenden Wirkung ist hier insbesondere die Gemeinschaftserfahrung von zentraler Bedeutung. Markus Freischem erklärte in einem Gespräch, dass es wichtig gewesen sei, endlich wieder aus positivem Anlass zusammenzukommen. Die Tradition aufrecht zu erhalten und sich zu treffen sei für alle Beteiligten mehr als Grund genug gewesen, sich in einer schwierigen Zeit zu engagieren und gemeinsam das Karnevalsprojekt auf die Beine zu stellen. „Zusammen zu kommen war so wichtig für uns“, schildert er. Der Karnevalsumzug gab den Beteiligten die Möglichkeit, wenn auch anders als in unbekümmerteren Zeiten, ihre bestehende Alltagsordnung zu verlassen. Die vielen stressigen und schwierigen Routinen des Nach-Flut-Alltags konnten für einen Moment vergessen werden. In Krisenzeiten ist das Aufrechterhalten von Traditionen und Bräuchen für viele Menschen von großer Bedeutung. Die temporäre Auszeit von sonst üblichen Regeln und Pflichten und das Erleben von Gemeinschaft gibt Kraft und Zuversicht für den harten Alltag.

Auch in diesem Jahr freuen sich die Schweinheimer*innen übrigens wieder auf einen richtigen Karnevalszug – am 10. Februar startet ganz traditionell um 11:11 der Kinderkarnevalszug auf dem Dorfplatz – „live und in Farbe“! Wir wünschen von Herzen: Dreimol Schwenem Alaaf!

Weitere Hintergründe zur Flutkatastrophe 2021 in Euskirchen
Schauen Sie doch mal in unser digitale Ausstellung: "So was haben wir noch nicht erlebt!"

Autorin: Giulia Fanton

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