LVR-Institut für Landeskunde
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Dialekt-Retter

Eine der häufigsten Fragen, die uns im Sprachteam des ILR erreicht, ist diese: „Was kann man tun, um die rheinischen Dialekte zu retten?“ Die Antwort wird vielen nicht gefallen: Es ist nicht mehr möglich, Dialekte wieder zur Alltagssprache zu machen. Wir können aber einerseits die Dialekte im Rheinland schriftlich und durch Tonaufnahmen dokumentieren und andererseits Situationen schaffen, in denen sie ihren festen Platz er- oder behalten. Die offensichtlichste Situation, in der der Dialekt verankert ist, ist der Karneval.

Dialektrückgang

Es stellt sich natürlich die Frage, warum die Dialekte in Nordrhein-Westfalen zurückgehen. Dieser Prozess ist übrigens nicht neu, sondern begann schon im 19. Jahrhundert. 1841 beschrieb ein Lehrer aus Wesel, dass das Plattdeutsche – also der rheinische Dialekt der Gegend – in bürgerlichen Kreisen seinen Status als Familiensprachen eingebüßt hatte, obwohl es 25 Jahre zuvor noch allgegenwärtig gewesen war. In anderen Regionen hielt sich der Dialekt länger, doch unterm Strich lässt sich sagen: Das Standarddeutsche wurde zum Ideal. Es wurde im Bildungswesen und Zeitungen, später auch anderen Medien verwendet. Dialekte fanden in einigen informellen Kontexten noch Verwendung, doch wurden zunehmend belächelt, teilweise sogar stigmatisiert. Wer Dialekt sprach, beschloss vielleicht, sich umzugewöhnen und seinen Kindern diese beschämenden Situationen zu ersparen. Auch die Industrialisierung und die Migration in die Städte beschleunigte den Rückgang der Dialekte, denn wer seine lokale Mundart sprach, konnte sich vielleicht nicht ohne Weiteres mit seinen neuen Nachbar*innen verständigen und musste auf den Standard oder zumindest eine standardnahe Sprachvarietät ausweichen. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen kaum noch Menschen mit aktiven Dialektkenntnissen auf und auch die passiven Dialektkenntnisse gehen bei jungen Menschen im 21. Jahrhundert gegen Null. Die Bestrebungen von Heimatvereinen, Mundart zu pflegen, in Schulen zu vermitteln und wieder zu etablieren, sind bewunderns- und unterstützenswert – aber leider nicht zielführend. Der hauptsächliche Zweck von Sprache ist Kommunikation und die glückt im Rheinland ohne Dialekt in den allermeisten Fällen besser als mit.

Die Rolle des Karnevals

Doch hier kommt der Karneval ins Spiel. Selbst Karnevalsmuffel kennen sicherlich Begriffe wie „Alaaf“, „helau“, „Kamelle“ oder „Strüssje“. Und auch ohne jemals dort gewesen zu sein, ist den meisten Menschen in Deutschland wohl klar, dass die Fünfte Jahreszeit ihren Höhepunkt beim Rosenmontagszoch in Köln hat. Köln und Karneval – das gehört einfach zusammen. Obwohl natürlich das ganze Rheinland zwischen dem 11.11. und Aschermittwoch Kopf steht, spielt Köln die Hauptrolle im Spiel der Närr*innen. Köln ist mit ca. einer Million Einwohnern die größte Stadt des Rheinlands und übt seit dem Mittelalter politischen und kulturellen Einfluss auf angrenzende Regionen aus. Kölsch, der Kölner Dialekt, erfährt auch mehr Aufmerksamkeit als seine Verwandten aus kleineren Orten. Die rheinischen Mundartbands außerhalb von Köln, die nicht nur traditionelles Liedgut neu interpretieren, sondern auch eigenes, neues Material liefern, sind nicht überregional bekannt. Das ist in Köln anders: Da gibt es Brings, die Höhner, Kasalla und mehr. Die Musik geht ins Ohr, bleibt dann dort und verleitet zum Mitsingen, selbst wenn man nicht viel versteht. Eine Suche nach „Karnevalsliedern“ in einer Suchmaschine Ihrer Wahl wird zahlreiche Listen zutage befördern. Dort mischen sich Schlagerklassiker, Ballermann- und Pop-Hits unter die eigentlichen Karnevalslieder, aber es fällt auf, dass außer Kölsch kein Dialekt vertreten ist. Das liegt natürlich nicht daran, dass man in keiner anderen Stadt Karnevalslieder im Dialekt geschrieben hätte, sie sind nur nicht so populär geworden wie „Superjeile Zick“ und „Viva Colonia“. Da simmer dabei – auch wenn man nicht in Köln feiert, sondern im Bergischen Land. „Alaaf“ ist neben „helau“ der bekannteste Narrenruf – selbst wenn er weniger lustig ist als zum Beispiel „Mengde I-A“ aus Menden.

Ein Plakat mit der Aufschrift "3x Mende IA. Doch der Esel ruht und träumt vom nächsten Jahr!" "3x Mengde IA" lautet der Narrenruf in Menden - hätten Sie das gewusst?

Wer die Kölschen Karnevalsklassiker und die Kölsche Mundart kennt, weiß aber auch, dass sie nicht alle vollständig im Dialekt verfasst sind, sondern teilweise „nur“ dialektale Einflüsse haben. Das macht sie für Außenstehende vielleicht zugänglicher, vor allem spiegelt dieser Umstand aber die Sprachrealität der Rheinmetropole wider. Auf den Straßen von Köln hört man verschiedene Sprachen, Kölsch aber nur vereinzelt und wenn, dann von älteren Menschen. Denn auch dort ist die Alltagssprache, wie im Rest des Rheinlandes, der Regiolekt. Unter Regiolekten versteht man standardnahe Varietäten mit dialektalen Eigenschaften. Diese Eigenschaften können den Wortschatz, die Satzstellung, die Satzmelodie oder Aussprache betreffen. Wenn der Karneval wirklich den Dialekt retten könnte, würde er dann nicht in der Karnevalshochburg Köln damit beginnen?

Ein weiterer fester Bestandteil des Karnevals sind die Büttenreden. Diese humoristischen Reden werden auf Karnevalssitzungen vorgetragen. Auch sie haben sich mittlerweile dem Standarddeutschen angenähert. Das ist auch nicht überraschend, denn den Karnevalist*innen, die zu Hause keinen Dialekt gesprochen haben, fehlen die Sprachkenntnisse, um sich künstlerisch im Dialekt auszudrücken. Den Text mit ein wenig mehr dialektalen Vokabeln zu spicken und mit etwas stärkerem Singsang vorzutragen, als sie es im Alltag tun würden, ist allerdings kein Problem.

Kölsch ist die Blaupause für rheinische Dialekte. Als bekanntester Dialekt im Rheinland wird er oft mit der ganzen Region assoziiert, obwohl Dialektsprecher*innen und die Sprachwissenschaft teils große Unterschiede zwischen Kölsch und allen anderen Dialekten des Rheinlandes erkennen. Nicht zuletzt durch die Beliebtheit des Kölner Karnevals hat Kölsch einen Status, von dem andere Dialekte weit entfernt sind. Aber nur durch das Lernen von Karnevalsliedern erwirbt man nicht die Fähigkeit, Kölsch außerhalb dieser Lieder zu verstehen, von eigenen Äußerungen ganz zu schweigen.

Die realistische Antwort auf die Frage, ob der Karneval den Dialekt rettet, lautet also: nein. Der rheinische Karneval bietet aber einen Raum, in dem ein bestimmtes Vokabular weiterhin genutzt werden kann. Lieder sind leichter zu merken als Prosatexte und eignen sich daher gut dafür, Dialekte zumindest in diesem einen Medium zu konservieren. Jedoch gilt das in erster Linie für Kölsch, da es in diesem Dialekt mehr Material gibt und er bereits bekannter ist als die Mundarten anderer Orte.

Frei nach den Bläck Fööss laden wir Sie ein: Sing doch ene met, stell dich nit esu aan!

Literatur

Cornelissen, Georg: Der Dialekt im Karneval des Rheinlands. In: Rheinform. Informationen für die rheinischen Museen. 01/2017. S. 13-17

Cornelissen, Georg: Kölsch. Porträt einer Sprache. Köln 2019

Cornelissen, Georg: Meine Oma spricht noch Platt. Wo bleibt der Dialekt im Rheinland? Köln 2008

Elmentaler, Michael und Rosenberg, Peter: Norddeutscher Sprachatlas (NOSA). Band 2: Dialektale Sprachlagen. Hildesheim et al. 2022