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Karneval und Fastenzeit im Zweikampf – Ein spätmittelalterliches Wimmelbild

In seinem vielleicht bekanntesten Werk, „Die niederländischen Sprichwörter“ (1559), setzte der flämische Maler Pieter Bruegel der Ältere (1525/30 – 1569) knapp 120 Redewendungen szenisch um. Dabei entstand ein dörfliches Sittenbild, das aufgrund seiner kleinteilig-farbenfrohen Manier durchaus als Wimmel- oder Suchbild des Spätmittelalters bezeichnet werden kann. Im Folgenden wird ein Gemälde vorgestellt, das sich ebenfalls dem Dorfleben widmet, dabei aber die Eigen- und Besonderheiten der populären Festkultur im christlichen Jahreslauf zum Thema hat. In „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ von 1559 werden die beiden spannungsreichen Pole Karneval und Fastenzeit treffend und karikaturistisch ins Bild gesetzt wie in kaum einer anderen bildkünstlerischen Aussage am Übergang zur frühen Neuzeit. Viele Laster und Tugenden des flämischen Volkslebens werden detailliert festgehalten und überspitzt dargestellt, aber erst durch das Einbetten in das spezifisch katholische Milieu wird der religiös-didaktische Spannungsbogen von Brauch und Ritual betont. Das Bild liest sich wie ein sozialkritischer Kommentar zur Auseinandersetzung zwischen profaner und klerikaler Kultur, zwischen Zügellosigkeit und Disziplinierung, zwischen Karneval und der beginnenden Osterzeit. Gegenstand ist eine Karnevalsfeier auf einem Marktplatz, eines der vielen halbreligiösen und halbprofanen Feste, die, typisch für die spätmittelalterliche Lebensführung, nicht nur den flämischen Städten und Dörfern ihren Stempel aufdrückten.

Gemälde: Ein Wimmelbild mit zahlreichen Menschen auf einem Marktplatz. Pieter Bruegel der Ältere, Der Kampf zwischen Karneval und Fasten, 1559, Öl auf Holz. BN: Pieter Brueghel the Elder, Public domain, via Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pieter_Bruegel_d._%C3%84._066.jpg#metadata

Gleich im Bildvordergrund erscheinen die wichtigsten Antagonisten: Auf der linken Seite, auf einem großen Fass, sitzt der feiste ‚Karneval‘; ihm gegenüber, auf einem Kirchenstuhl, erkennen wir die allzu magere ‚Fasten‘. Der symbolische Zweikampf der beiden Figuren – verdeutlicht durch die als Waffe geführten Gegenstände Bratspieß und Brotschaufel – lässt eine Trennung des Bildes in der Mitte zu, die Bruegels antithetisches Darstellungsprinzip ankündigt und dessen konsequente und durchdachte Fortführung die Anhängerschaft und Gefolgsleute beider Figuren klar zu erkennen gibt. So dient die linke Bildhälfte zur Darstellung der Popularkultur, des übermütigen Lebens, des Trinkens, Fressens, Tanzens und Spielens, ist also ganz auf irdisch-fleischliche Gelüste hin ausgerichtet. Die rechte Bildhälfte hingegen ist geprägt von den Vorbereitungen auf die beginnende Fasten- und Osterzeit, ein asketisches Leben der Genügsamkeit und des Betens. Auch sind die jeweiligen Hauptanziehungspunkte beider Kontrahenten im Bild dargestellt: Wirtshaus und Kirche. Die Wichtigkeit der Einrichtungen erklärt sich von selbst, denn beide vertreten und fördern die entsprechende Lebensgestaltung ihrer Anhängerschaft par excellence: In einem regiert der Rausch des Augenblicks, im anderen dominieren Buße und Besinnung. Und mehr noch: Mit der Darstellung eines Bootes im Wirtshausschild symbolisiert das Wirtshaus das Narrenschiff, das in der niederländischen Literatur schon um 1414 in einem Gedicht von Jacob von Oestvoren als Aufenthaltsort für Narren erscheint und in den Fastnachtsumzügen durch blaue Schiffswagen ihre Fortführung fand. Spätestens mit der humanistischen Moralsatire „Das Narrenschiff“ (1494) von Sebastian Brant mit den fulminanten Holzschnitten Albrecht Dürers erhielt das Narrenschiff in der Weltliteratur seine Bekanntheit. Die blauen Kufen unten am ‚Fasten-Gefährt‘ nehmen die unsichere Schiff-Symbolik auf, es werden zwei polare Sphären von hoher Attraktion konstruiert: Das unsichere, aber lustige Narrenschiff im Zweikampf mit dem sicheren, aber spaßbefreiten Kirchenschiff.

Bildausschnitt: Ein Boot auf einem Schild vor einem Wirtshaus. Dieses soll das Narrenschiff symbolisieren. Wirtshausschild mit Schiffs-Symbolik (Detail)

Und wohin mag der in der Bildmitte platzierte Narr mit brennender Fackel das ihm nachfolgende Paar nur leiten? Tiefer in die Zone der unbelehrbaren Narren, dem selbstlosen Haufen, der sich nicht mal um die Kranken und Aussätzigen kümmert? Oder wird er es auf den ‚rechten Weg‘ des Christentums leiten, der Festigkeit, soziale Fürsorge und Vernunft verspricht?

Bildausschnitt: Ein Narr hält eine brennende Fackel in den Händen. Narr mit brennender Fackel als Wegweiser? (Detail)

Die konsequente Abbildung eines bedeutenden ritualisierten Brauchs und der detaillierte Blick Bruegels ließen ein Sittenbild von großer kulturwissenschaftlicher Bedeutsamkeit entstehen. Das soll im Folgenden am Beispiel einiger ausgewählter Attribute verdeutlicht werden, die den beiden Hauptfiguren und deren Gefährt beigefügt sind.

Bildausschnitt: Ein dickerer Mann sitz auf einem Fass und hält einen Spieß mit einem Schwein in Händen. Das Fass wird von zwei Personen geschoben. Personifizierter ‚Karneval‘ (Detail)

Der vor Vitalität und Lebensfreude strotzende ‚Karneval‘, dessen unrasiertes Gesicht vom Wein gerötet ist, sitzt in farbenfrohen Kleidern rittlings auf einem Fass. Um seine ansehnliche Taille trägt er ein großes Messer, das ihn als gefräßigen wie maßlosen Menschen kennzeichnen soll. Auf dem Kopf balanciert er eine Schüssel Fleischpastete, die jeden Augenblick runterzufallen droht, weswegen er sie nicht aus den Augen lässt. Vor Kopf des Fasses steckt, mit einem Messer befestigt, ein großer Schinken. Neben dem üppigen Bratspieß sind auch die vor dem Gefährt des Karnevals achtlos zerschlagenen Eier als Zeichen des Übermaßes und der Verschwendung zu werten. Ausnahmslos handelt es sich um genussversprechende Nahrungsmittel, die in der Fastenzeit strengstens untersagt waren und daher zur Karnevalszeit nochmals ausgiebig konsumiert wurden. Gleich neben den Eiern sind Spielkarten zu erkennen, ein weiterer Ausdruck des sündigen Zeitvertreibs: Karten und Würfelspiele wurden im Spätmittelalter stets in Verbindung mit dem Teufel gebracht. Der Karneval symbolisiert nach christlichem Denken die lasterhafte Lebensfreude einer scheinbar gottlos gewordenen, närrischen Gesellschaft, die das bevorstehende Ende im Rausch der Feiertage nur schwer akzeptieren konnte.

Bildausschnitt: Eine hagere große Person sitzt auf einem Stuhl, welche auf einem Wagen steht. Der Wagen wird von zwei Personen gezogen. Personifizierte ‚Fasten‘ (Detail)

Sein Widerpart, die aschgraue und ausgemergelte ‚Fasten‘, jene ungesund aussehende Spaßverderberin, sitzt auf einem Kirchenstuhl. Zwei karge Heringe liegen als typische Fastenmahlzeit auf ihrer Brotschaufel, und anstelle des Messers führt sie Gebetbuch und Rosenkranz als unentbehrliche Gebrauchsgegenstände während der Fastenzeit mit sich. In der linken Hand hält sie einen Zweig dürren Reisigs zum Zeichen der Askese und Selbstgeißelung, um die Stuhllehne hängt ein Kranz aus Zwiebeln. Weitere Nahrungsmittel der Armen befinden sich auf ihrem Wägelchen: Brezeln, Brote und Miesmuscheln. Auf ihrem Kopf trägt die personifizierte ‚Fasten‘ einen umgestülpten Bienenkorb. Die Biene gilt im Volksglauben als äußerst fleißig und genügsam – Eigenschaften, die der katholischen Kirche als symbolische Unterstützung ihrer Grundsätze nur recht sein konnten. Der Honig zählt daneben aber auch als wertvolle, fleischlose Speise sowie als Süßungsmittel der Fastenzeit. Das Aschekreuz auf ihrer Stirn bestätigt das Ende der ausschweifenden Tage und warnt zugleich vor dem ewigen Tod eines sündhaften Lebens.
Zur Entourage der ‚Fasten‘ gehören auch Kinder mit hölzernen Klappern oder Ratschen. Sie üben den Brauch des Karklapperns (Link zum Thementext Karklappern auf dem Portal Alltagskulturen im Rheinland) aus, der bis heute in den katholisch geprägten Gemeinden nicht nur des Rheinlandes praktiziert wird. Gleich hinter den Kindern ist ein Küster zu sehen, der bereits den Weihwasserkessel für Ostersamstag trägt. Neben diesen gibt es weitere Hinweise auf die bevorstehende Osterzeit: In der oberen Bildmitte ist ein Haus dargestellt, an dem Vorbereitung für die Osterfeiertage getroffen werden (Hausputz); unmittelbar vor und in der Kirche erkennen wir geweihte Zweige und ein zur Verehrung niedergelegte Kreuz.

Bildausschnitt: Eine Person sitzt in einem Fenster. Eine Frau steht auf einer Leiter und putzt ein Fenster. Hausputz vor Ostern (Detail)

„Am Aschermittwoch ist alles vorbei“. So beschreibt es das bekannte Karnevalslied von Jupp Schmitz, das seit 1953 an keinem Ende der Karnevalszeit fehlen darf. Und wenn man genauer in das Gesicht der ‚Fasten‘ bei Bruegel schaut, bekommen diese Zeilen eine ganz reale, beunruhigende Bedeutung. Aber stellt das aufgedunsene, feiste Gesicht des ‚Karneval‘ wirklich die bessere Alternative dar? Es ist doch wie so oft: Beide Welten gehören auf ihre Art zusammen, bedingen einander. Keine Welt muss so krass und überzeichnet sein wie im hier besprochenen Bild. Und auch wenn das Zusammensein im Familien- und Freundeskreis zu Karneval und Ostern in diesem Jahr seuchenbedingt zum zweiten Mal hintereinander eingeschränkt wird – es kommt wieder, ganz bestimmt, freuen wir uns darauf und seien zuversichtlich!

Literatur

Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Stuttgart 1998

Burke, Peter: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1981

Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. 101993

Grimm, Claus: Kunst und Volk im 17. Jahrhundert. In: Wolfgang Brückner: Literatur und

Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13, Teil I). Wiesbaden 1985

Mezger, Werner: Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur (= Konstanzer Bibliothek, Bd. 15). Konstanz 1991

Moser, Dietz-Rüdiger: Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der verkehrten Welt. Graz (u.a.O.) 1986

Schutt-Kehm, Elke M.: Pieter Bruegels d. Ä. „Kampf des Karnevals gegen die Fasten“ als Quelle volkskundlicher Forschung (= Studia Ethnographica et Folkloristica, Bd. 7). Frankfurt a. M. (u.a.O.) 1983

Stridbeck, Carl Gustav: Bruegelstudien. Untersuchungen zu den ikonologischen Problemen bei Pieter Bruegel d. Ä. sowie dessen Beziehungen zum niederländischen Romanismus. Stockholm 1965