LVR-Institut für Landeskunde
und Regionalgeschichte
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Karneval als Event mit Erlebnischarakter

oder über die Sehnsucht nach rauschenden Festen

Karneval 2020: In übervollen Kneipen, dicht an dicht gedrängt, der Pirat schunkelnd, Arm in Arm mit dem Bären im stickigen Fellkostüm, das schale Bier schmeckt köstlich und aus den Lautsprechern dröhnen die Karnevalshitshits und werden nur vom Gegröle der Teufel, Clowns und Katzen übertönt, die, mehr oder weniger textsicher, mitsingen. Auch während der Umzüge der Karnevalisten kommt man sich nah, sammelt gemeinsam mit dem zufälligen Straßennachbarn am Zugrand die Kamelle für das so entzückend verkleidete Kleinkind, teilt sich schwesterlich den süßen Berliner und, mit dem Stadtsoldaten, der gerade vorbeimarschiert, trinkt man noch schnell Bruderschaft.

Eine Gruppe verkleideter Zuschauer, die Kamelle auflesen, die von einer Fußgruppe geworfen wurden. Eine Gruppe verkleideter Zuschauer, die Kamelle auflesen, die von einer Fußgruppe geworfen wurden. Foto: Anja Schmidt-Engbrodt, LVR-Archiv des Alltags im Rheinland, ase20200225-054 Eine Gruppe verkleideter Karnevalisten vor einer Kneipe. Eine Gruppe verkleideter Karnevalisten vor einer Kneipe. Foto: Katrin Bauer, LVR-Archiv des Alltags im Rheinland, KB20150212-004

Karneval ist zelebrierte Gemeinschaft, die in unterschiedlichen Ritualen vollzogen wird. Es ist ein explizit aus dem Alltag herausgehobenes Ereignis, ein Fest der Sinne und Emotionen. Gefühle können mehr oder weniger ungezügelt herausgelassen und ausgelebt werden. Ungeschriebene (und geschriebene) Regeln setzen Grenzen und bei weitem ist auch an den tollen Tagen eben „nicht alles erlaubt“. Trotzdem ist es eine mit allen Sinnen gelebte Auszeit vom Alltag, in der eben vieles „geht“ was sonst verpönt ist: Alkohol, das Bützje mit dem unbekannten Jecken, fettiges Essen in Form von Berliner, Krapfen, Mutzen, der Döner nach Mitternacht, die Pommes auf die Hand oder Reibekuchen, die Kamelle vom Zug oder das deftige Katerfrühstück – auch auf dem Teller wird die Auszeit spürbar.

Unsere posttraditionale Eventgesellschaft „vor Corona“, war geprägt von solchen Festen, die das unmittelbare Fühlen von konstruierten Gemeinschaften zum Ziel hatten, die Highlights setzten, die ganz bewusst eine außeralltägliche Welt inszenierten. Rauschende Feste, die uns dem Alltag entfliehen ließen – das dichte Gedränge auf der Kirmes, das ekstatische, gemeinsame Erleben im Fußballstadion, das unmittelbare Fühlen von Gemeinschaft auf Konzerten und Festivals. Und diese außeralltäglichen Ereignisse und damit auch diese „Kicks“ konnten wir uns Alle immer und überall kaufen. Wir mussten nicht auf die jahreslaufprägenden Feste wie Karneval, den Weihnachtsmarkt oder das große Schützenfest warten, die Erlebnisse konnten mit einem Klick gebucht werden. Es waren synthetisch erzeugte Events, die sich „als die typischen außeralltäglichen Vergemeinschaftungsformen grenzenloser, sich zunehmend individualisierender und pluralisierender Gesellschaften bezeichnen“ lassen. „Erlebnisgesellschaft“ war eines der Label, mit denen unsere Zeit „vor Corona“ etikettiert wurde. Und diese Erlebnisse haben wir permanent konsumiert und selbst kreiert, sie blieben bei weitem nicht auf die großen Konzerte, Festivals oder andere Massenveranstaltungen beschränkt. Samstagsshopping in der Fußgängerzone, die Eröffnung der neuen Eisdiele des Fußballstars oder die Filmpremiere im Kino um Mitternacht, gemeinsames Erleben mit vielen Gleichgesinnten. Immer und überall spielte soziale Interaktion oder zumindest das Eingebettetsein in einen kollektiven Rausch, in eine von unzähligen Menschen getragenen Aktivität eine wesentliche Rolle. Die Gemeinschaft legitimierte unser Tun.

Und nun? Mit Corona im Lockdown? Genau diese kollektiven Erlebnisse, das Eintauchen in Gemeinschaften sind es, die uns Allen – in welcher Art und Weise auch immer – fehlen. Und es ist auch gerade das, was die aktuelle Situation für Viele schwieriger macht, als beim ersten Lockdown im Frühjahr 2020: Damals hatte die plötzliche Unterbrechung unserer Alltagsroutinen bei aller Verunsicherung, bei allem Leid und aller Trauer gleichzeitig auch etwas Aufregendes, etwas Spannendes. Es forderte uns und unseren Alltag neu zu organisieren: Der Spaziergang durch unser Stadtviertel bei dem wir neue, unbekannte Orte entdeckten, die erste Zoom-Konferenz mit Freunden und Verwandten, das virtuelle Feierabendbier, die kollegiale Mittagspause am Laptop, das alles war aufregend und ersetzte die fehlenden Eventerlebnisse. Auch die kreativen Ideen, Feste, Feiern und ausgefallene Events durch Anderes, durch neue Formen zu ersetzen, machte unseren neuen Alltag neu und spannend. Doch jetzt, nach fast einem Jahr Leben mit der Pandemie ist dieser Kick verflogen. Wir haben fast jeden Geburtstag und jedes Jahresfest unter den veränderten Rahmenbedingungen schon einmal begangen, haben es umgestaltet und anders gefeiert als sonst, der Kick ist verflogen.

Ein als Karnevalswagen geschmücktes Spielzeug-Wägelchen mit Clowns und einem Hampelmann, das von einem Pferdchen gezogen wird. Ein als Karnevalswagen geschmücktes Spielzeug-Wägelchen mit Clowns und einem Hampelmann, das von einem Pferdchen gezogen wird. Foto: Katrin Bauer, LVR-Archiv des Alltags im Rheinland, KB20210129-001

Und so kommt Karneval 2021 eine ganz besondere Bedeutung zu, es wird für uns Alle noch einmal neu und anders sein. Ohne Feiern in der Kneipe, ohne Rosenmontagszug und Sitzungskarneval, dafür aber mit vielen Ideen für alternatives Feiern, für virtuelle Veranstaltungen und kreative Aktionen, die es vielleicht trotzdem schaffen, einen Hauch Außeralltäglichkeit und Gemeinschaftsgefühl zu transportieren: In Bonn ruft der Festausschuss beispielsweise unter dem Motto: „Uns Pänz sin am Zoch – mach Deinen Rosenmontagszug!“ dazu auf, mit Spielzeugfiguren und –wagen einen eigenen Rosenmontagszug aufzubauen. Mit der Videokamera soll der Zug dann von oben gefilmt werden. Zusammengesetzt ergeben diese vielen Filme der Karnevalisten ein Ganzes, einen gemeinsamen alternativen Karnevalszug und man selbst ist mit seinem Zug Teil der Gemeinschaft. Nicht unmittelbar, nicht fühl- und spürbar, aber immerhin virtuell! In diesem Sinne Alaaf! Machen wir das Beste daraus und freuen uns auf 2022!

Katrin Bauer

Literatur- und Quellenangaben

Gebhardt, Winfried u.a.: Events. Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen 2000, hier S.12.

Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. Studienausgabe 2000.

„Uns Pänz sin am Zoch – mach Deinen Rosenmontagszug!“ - Festausschuss ruft Kinder auf, den Rosenmontagszug aufzubauen. Online unter https://www.karneval-in-bonn.de/start/Home/Home/news/Uns-Paenz-sin-am-Zoch---mach-Deinen-Rosenmontagszug---Festausschuss-ruft-Kinder-auf-den-Rosenmontagszug-aufzubauen__8956.html?xz=0&ci=8956&cs=2&cc=1 (28.01.2021).