LVR-Institut für Landeskunde
und Regionalgeschichte
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St. Martin zu Gast in einer Bonner Begegnungsstätte. Auftakt einer neuen Veranstaltungsreihe

Um einen gedeckten Tisch sitzt eine Gruppe älterer Menschen, deren Gesichter nicht zu erkennen sind. Eine von ihnen hält eine Laterne mit einem leuchtenden Stern in der Hand. Auf dem Tisch liegen Gebäcktüten mit Weckmännern darin. Weckmann und Laterne wecken eigene Erinnerungen. (Foto: LVR/Jana Brass)

Kulturelles Erbe ist nicht statisch, Bräuche nicht in Stein gemeißelt, Traditionen nicht unveränderlich. Diese Perspektive bildet einen Grundsatz der Arbeit des Teams Alltagskultur am LVR-ILR. Bereits in meinem Masterstudium „Kulturanthropologie“ an der Universität Bonn hatte ich – seit September 2023 Volontärin am LVR-ILR – gelernt, Kultur aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Besonders spannend finde ich daran, dass viele Menschen bei den genannten Schlagworten vielmehr an scheinbar fest etablierte Handlungsabläufe und tradierte Narrative denken: „Das hat man schon immer so gemacht“. Oder als Frage formuliert, der eine Folge unseres Podcasts nachgeht: „Wie geht der Brauch denn eigentlich richtig?“. Dieses Spannungsfeld macht unsere Arbeit so interessant und veranlasste mich dazu, nach abgeschlossenem Studium als Alltagskulturforscherin an das LVR-ILR zu kommen.

Wie setze ich mein theoretisches Verständnis um Akteur*innen, Felder und Dynamiken kulturellen Erbes hier also praktisch ein, um Alltagskultur im Rheinland zu erforschen, zu dokumentieren und zu vermitteln? Die Chance, das herauszufinden, ließ nicht lange auf sich warten: Im Sommer 2023 hatte der Ortsverein Bonn der AWO (Arbeiterwohlfahrt e.V.) angefragt, ob das LVR-ILR in Kooperation mit ihm eine Veranstaltungsreihe organisieren möchte. Jedes Quartal würden wir in der Begegnungsstätte für Senior*innen, die der AWO-Ortsverein Bonn im Stadtteil Tannenbusch betreibt, einen unserer Filme zeigen können, um im Anschluss eine Art Erzählcafé zu organisieren. Der Anspruch der AWO: In den Senior*innen persönliche Erinnerungen wecken und zu Gesprächen anregen, um ihnen so eine schöne Zeit zu schenken.

Wie lässt sich das mit den Aufgaben unseres Instituts verbinden? Eigentlich ist es ganz einfach: Wir Alltagskulturforscher*innen gewinnen unser Wissen über den Alltag der Menschen im Rheinland ja, indem wir mit ihnen als Expert*innen ihres eigenen Alltags in den Austausch treten. Und wo könnte eine solche Begegnung besser stattfinden als in einer ausgewiesenen „Begegnungsstätte“? Wer könnte außerdem besser Auskunft darüber geben, wie sich Bräuche im Verlauf der Zeit verändern, als Menschen, die seit vielen Jahrzehnten ihr Leben und damit ihren Alltag im Rheinland gestalten und erleben? Und: Was eignet sich für die Aktivierung persönlicher Erinnerungen besser als audiovisuell dokumentierte Alltagsszenen, sprich unsere eigenen Filmdokumentationen? Seit über 60 Jahren begleiten wir Rheinländer*innen mit der Filmkamera. Einmal gedreht, sollen unsere Filme aber nicht im Regal beziehungsweise im Internet verstauben. Denn es geht uns nicht um das Festhalten vermeintlich festgefügter Lebensrealitäten. Vielmehr wollen wir Prozesse lebendiger und damit dynamisch veränderlicher Alltagskultur begleiten. In diesem Sinne können wir unsere Filme ‚von damals‘ nutzen, um Gespräche darüber anzustoßen, wie es ‚heute‘ ist, was sich verändert hat und wie die Menschen, mit denen wir sprechen, diese Veränderungen ganz persönlich erleben.

In einem dunklen Raum hängt eine Leinwand, auf der das Bild eines großen Feuers zu sehen ist. Unscharf sind im Vordergrund Tische und Stühle zu erkennen. „Die Martinsfeuer von Ahrweiler“ brennen auf der Leinwand. (Foto: LVR/Jana Brass)

Und so kam es, dass wir am 11. November 2023 in der Bonner Begegnungsstätte nicht nur gemeinsam eine Filmdokumentation aus unserem Archiv schauten, nämlich die „Martinsfeuer von Ahrweiler“ (1988, auf Youtube verfügbar). Ja, wir erfuhren im Detail welche Techniken junge Männer anwenden, um Reisigbündel zu hohen Türmen zu stapeln, welche Abläufe die Feierlichkeiten am Martinstag strukturieren und wie das Vereinswesen in der Stadt den Alltag junger Erwachsener in den späten 1980er Jahren prägte. Insbesondere jedoch erfuhren wir von den Besucher*innen an diesem Tag, dass es unzählige Möglichkeiten gibt, Weckmänner zu essen (angefangen mit dem Kopf oder den Beinen; abreißend, - beißend oder aber feinsäuberlich aufgeschnitten; mit oder ohne Butter …), dass das Gebäck selbst vielfältige Namen hat, dass einige Besucher*innen den Eindruck teilen, dass das Martinssingen an Aufmerksamkeit einbüßt, dass viele Vereine unter Nachwuchsproblemen leiden und ihre Aktivitäten daher einschränken müssen und vieles mehr.

Selbstverständlich bergen solche Formate auch Herausforderungen – die Tonspur älterer Filme beispielsweise. Gepaart mit unvertrauter Technik am Veranstaltungsort zwang sie uns zu spontanem Improvisieren. So wird unser Arbeitsalltag nie langweilig!

Der Termin für den kommenden Filmnachmittag steht bereits: Am 30. Januar werden wir den Film „Heimesche Alaaf. Kinderkarneval in Heimersheim“ zeigen (1993, ebenfalls verfügbar auf Youtube). Mehr Informationen demnächst auf unserer Website.

Jana Brass