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"Die Daumen drücken" – Filmarbeit unter Corona-Bedingungen
Aktuell beschäftige ich mich als Alltagskulturforscherin mit dem Material über das letzte und erste Schützenfest in Keyenberg, einem Projekt über einen Schützenverein in der Situation der braunkohletagebaubedingten Umsiedlung. Seit Mai 2019 haben wir die Aktivitäten der St. Sebastianus Schützenbruderschaft Keyenberg 1449 e.V. mit der Kamera begleitet. Nun steht der Filmschnitt an. Einer der ersten Schritte im Prozess der Entstehung eines Filmes ist das Sichten und Beschreiben des gesammelten Bildmaterials sowie der geführten Interviews.
Heute führte mich das Material ziemlich genau ein Jahr in die Vergangenheit: Bei der Jahreshauptversammlung der Bruderschaft am Sonntag den 19. Januar 2020, terminlich am Gedenktag für den Heiligen Sebastian ausgerichtet, machten wir Filmaufnahmen für das Projekt. Nach dem letzten großen Schützenfest 2019 und Abschied vom Altort war es für den Verein die erste Veranstaltung im Umsiedlungsstandort Erkelenz-Nord, zu dem auch Keyenberg (neu) gehört. Trotz verschiedener Unsicherheiten, wie sich das Schmücken des Ortes, der noch viel mehr einem Neubaugebiet gleicht als einem Dorf, gestalten ließe oder wie der Transport der noch im Altort lebenden Festgäste samt Shuttlebussen zu organisieren sei, war man in Redebeiträgen und Planungsgruppen auf die Gestaltung der Zukunft ausgerichtet. Vier Monate später sollte hier, zwar im provisorischen Festzelt, aber für die Gemeinschaft im Prozess der Umsiedlung besonders wichtig, das erste Schützenfest im neuen Ort stattfinden.
Gut vier Wochen später, Ende Februar 2020, hatte die Covid-19-Pandemie den Kreis Heinsberg zum ersten deutschen Corona-Hotspot gemacht. An die Ausrichtung eines Schützenfestes im Mai war nicht mehr zu denken.
Interviewsetting in Keyenberg (neu) Bild: Anja Schmid-Engbrodt
Ende Juni 2020 besuchten wir den Verein erneut für ein Interview, bei Einhaltung aller Abstandsregelungen; gegen Ende des Gesprächs zwischen dem Brudermeister (B), dem amtierenden Schützenkönig (S) und mir als Interviewende (I) entstand folgender Dialog:
S: „Das Blöde ist halt, es gibt kein Schießen und ich werde dann praktisch im nächsten Jahr dann wieder König sein, müssen wir mal gucken, wie wir das machen. Weil es heißt ja auch eigentlich offiziell, dass das eine Krönungsmesse ist, und dann müsste man gucken, wie man das dann laufen lässt, weil das gab es ja so hier in Keyenberg noch nicht, dass einer 2 Jahre in Folge König macht.“
I: „Guck mal was für eine Ehre, was für eine Ausnahme, das geht in die Geschichte des Vereins ein.“
B: „Wenn das ein drittes Jahr wird, ist er sofort Kaiser."
S: „Ja.“ (lacht)
I: „Das wirst du ja, ohne dass Du Dich nochmal beim Schießen beweisen musst.“
S: „Genau. Das läuft automatisch durch.“ (lacht)
B: „Ja, das hat es tatsächlich noch nie gegeben, noch nie. Das ist mir nicht bekannt, seit den 571 Jahren ist das einmalig.“
I: „Da musst Du Dir aber was überlegen, Du musst das ja irgendwie thematisieren oder dann was sagen oder da irgendwie einen Witz da draus machen oder so.“
S: „Ja.“
I: „Ja, also oder ich meine, das ist ja nun wirklich, wenn Du dann…"
S: „Ja, ich denke mal, dass alle Schützenbrüder und Schützenschwestern die Daumen drücken, dass es nächstes Jahr was wird, weil ich glaube, die meisten würden das unfair finden, wenn ich dann wirklich danach das Jahr Kaiser machen würde.“ (lacht)
B: (lacht laut)
(Ausschnitt aus dem Interviewtransskript)
Einer schwierigen Situation mit Humor zu begegnen kann eine Ventilfunktion für die Betroffenen haben. Dass der Schützenkönig automatisch zum Kaiser wird, ist nun, im Januar 2021, deutlich realistischer geworden. Voraussichtlich wird es auch in diesem Jahr pandemiebedingt kein erstes Schützenfest in Keyenberg (neu) geben können. Wir drücken die Daumen, dass es anders kommt.
Das geplante Thema unseres Films, die Schützenbruderschaft als Verein in der Umsiedlung ein Jahr lang vom letzten Fest im Altort bis zum ersten Fest im Neuort zu begleiten, wird als Dokumentation des Alltags nun eine andere Geschichte erzählen.
Andrea Graf