LVR-Institut für Landeskunde
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Kioskkultur: Vom Büdchen ums Eck und anderen Trinkhallen

Die Tüte Süßes und der Erinnerungsort

Kiosk auf einem Platz Ein Veedels-Kiosk in Köln-Nippes. Foto: Gabriele Dafft/LVR-ILR Das Büdchen: Anlaufstelle für den Frühstücks-Snack, ein Schwätzchen überbrückt die Wartezeit. Foto: Gabriele Dafft/LVR-ILR

Kiosk, Bude, Trinkhalle oder Späti – das kleine Verkaufsgebäude hat viele Namen. Die Menschen im Rheinland kennen und lieben es vor allem als „Büdchen“. Nicht nur, weil hier die Dinge des täglichen Bedarfs mal eben schnell „ums Eck“ zu besorgen sind, sondern weil der Viertels-Kiosk auch Erlebnisraum, Erinnerungs- und Kommunikationsort ist. Hier hält man beim Spontaneinkauf ein Schwätzchen mit der Inhaberin, die ihre Stammkundschaft und deren Wünsche bestens kennt. Hier versorgen sich Studierende an Sommerabenden mit Flaschenbier zum „Cornern“ – nicht immer zur Freude der Anwohnerschaft. Am Büdchen holen sich die Kollegen von der Baustelle in der Mittagspause schnell ein Brötchen auf die Hand oder „schödden sich de Kaffe in d'r Kopp“, um es mit dem Song der Band „Bläck Fööss“ zu sagen. Ihr Lied „In d'r Kaffeebud" ist nur ein Beispiel dafür, dass dem Kiosk immer wieder musikalisch oder literarisch ein Denkmal gesetzt wird

Totgesagte leben länger

In einen Ladenlokal stehen eine junger Mann und eine junge Frau vor einem Getränkesortiment. Durch ein Fenster sieht man weiter junge Leute. Das umfangreiche Getränkesortiment dieses Kölner Büdchens ist auf Studierende ausgerichtet, die sich an der nahegelegenen Uni Wiese auf ein Kaltgetränk treffen. Foto: Matthias Jung/LVR-ILR.

Das Bekenntnis zur Trinkhalle als kulturelles Erbe der Region rückte umso stärker ins Bewusstsein, je bedrohter die Kioskkultur seit den 1980er und 90er Jahren wurde. Strukturwandel, Konkurrenz durch Tankstellen-Shops, veränderte Ladenöffnungszeiten und gewandelte Konsumgewohnheit – ein ganzes Bündel von Ursachen führte dazu, dass ein „Kiosksterben“ konstatiert wurde. Doch Totgesagte leben länger! Der Kiosk ist ein emotional und symbolisch aufgeladener Ort und hält sich hartnäckig. Trotz Alternativen für die Konsument*innen – zuletzt durch den Lieferservice von Supermärkten und anderen Dienstleistern – hat er Nischen für sich erobert. Für den Naheinkauf von Dingen des täglichen Bedarfs ist er weiterhin attraktiv, gerade weil er sich mit seinem Sortiment ganz auf das lokale Umfeld seines Standortes einstellt.

So vergleichbar die Sortimente mitunter sind: Ein Bahnhofskiosk hat einen anderen Schwerpunkt als der Kiosk am Schwimmbad, vor der Uni oder in einem migrantisch geprägten Viertel, wo Internetcafé und Telefonkarten eine willkommene Ergänzung sind.

Emotionale und kommunikative Bedürfnisse

Eine Frau reicht einem Mann durch das Verkaufsfenster eines Kioskes eine Wasserflasche. Der kleine Einkauf um die Ecke ist praktisch, das kurze Gespräch am Büdchen gehört für manche Stammkunden dazu. Der Kiosk erfüllt unterschiedliche Bedürfnisse. Foto: Thomas Scheidt/LVR-ILR.

Doch neben rein pragmatischen und materiellen Wünschen erfüllt der Kiosk eben noch andere Bedürfnisse. Er schafft Erlebnisräume, beispielsweise die kleine, mentale Nostalgie-Reise nach dem Motto „Schön, dass es sowas heute noch gibt.“ Darüber hinaus kommt der kleine Kiosk vielen Kund*innen persönlicher daher, als der anonyme Konsumriese vieler Supermarktketten – auch das wissen viele beim Kleinsteinkauf zu schätzen. Und manchmal vermittelt der Einkauf „anne Bude“ sogar ein Wir-Gefühl. Mehr oder weniger bewusst unterstützt die Kioskkundschaft gerne eine Institution, die den Charakter „ihrer“ Region prägt. Denn nicht zuletzt durch Initiativen von lokalen Akteur*innen wurde das Image der Trinkhalle als Faktor regionaler Identität des Rheinlands und des Ruhrgebiets popularisiert. Der „Tag der Trinkhallen“ ist so eine Aktion, in diesem Jahr findet er am 6. August zum dritten Mal statt. Den Ritterschlag bekam die Kioskkultur sicherlich, als die Trinkhallenkultur des Ruhrgebiets im Jahr 2020 als immaterielles, kulturelles Erbe in das Landesinventar von Nordrhein-Westfalen aufgenommen wurde.

Wasserhäuschen im 19. Jahrhundert: Kurort vor der Haustür

Zeitungsständer vor einem Kiosk. Zeitungen ergänzten schon früh das Sortiment der ursprünglichen "Wasserhäuschen". Foto: Thomas Scheidt/LVR-ILR.

Vorläufer der heutigen Büdchen sind die Wasserhäuschen, die während der Industrialisierung im Ruhrgebiet entstanden sind. Sie sollten ab Mitte des 19. Jahrhunderts den Flüssigkeitsbedarf der Industriearbeiter auf gesunde Weise mit Mineralwasser decken. Quasi ein Kurort vor der Haustür für die sogenannten kleinen Leute. Die Wasserhäuschen entstanden zunächst vor allem vor Fabriktoren, vor Zechen oder sogar auf dem Zechengelände oder in Arbeitervierteln. Die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser bekam einen hohen Stellenwert, weil der Konsum von Schnaps, insbesondere Kartoffelschnaps, zunehmend als Problem erkannt wurde: Für die Sicherheit, die Gesundheit und die Moral. Denn in den Anfängen der Industrialisierung war es bei den Arbeitern weit verbreitet, Hochprozentiges zu konsumieren. Manche Zechenbetreiber zahlten der Belegschaft sogar einen Teil des Lohns in Form von Schnapsspenden.

Mineralwasser statt Kartoffelschnaps

Kioskgebäude mit geschlossenen Fenstern und Türen. Plakate kleben an der Fassade Dieser Kiosk aus dem Bonner Bahnhofsviertel hat geschlossen und steht jetzt im LVR Freilichtmuseum Kommern. Foto: Gabriele Dafft/LVR-ILR

Nun darf man sich aber keineswegs vorstellen, dass es bei der Arbeiterschaft aus Jux und Dollerei hieß: Hoch die Tassen! Der Schnapskonsum war zu der Zeit gewissermaßen ein Relikt aus Ernährungsgewohnheiten einer agrarisch geprägten Kultur. Alkohol deckte schlicht und einfach den Kalorienbedarf bei harter körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft und half, Hungergefühle und das Elend infolge einer oftmals prekären Arbeit zu kompensieren. Nicht zuletzt war hygienisch sauberes Trinkwasser bei weitem nicht immer verfügbar. Daher wurde in den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung auch mangels Alternativen an dieser Ernährungsweise festgehalten. Mit zunehmender Komplexität und Technisierung der industriellen Arbeit war diese Gewohnheit aber nicht mehr nur schädlich für die Gesundheit der Beschäftigten, sondern auch ein Risiko für die Arbeitssicherheit und die Qualität der Arbeit. Darüber hinaus erstarkten bürgerliche Mäßigungsbewegungen, die im Alkoholkonsum eine Gefahr für Sitte und Anstand sahen. Abhilfe sollte also die Versorgung mit Trinkwasser schaffen, das aus dem Mineralwasserquellen, zum Beispiel aus dem Bergischen Land, angeliefert wurde. Zunächst wurde es in den Buden aus großen Kupferkesseln angeboten. Die Einführung der industriell abgefüllten Mineralwasserflaschen führte schließlich in den 1870er Jahren zum Durchbruch des Trinkhallen-Konzeptes.

Neue Konzepte, angepasstes Sortiment

Straßenansicht eine Kioskes mit dem Namen "Späti", Junge Leute sitzen und stehen davor. Ein Mann unterhält sich mit dem Kioksinhaber. Der Kiosk ist hier "Haltestelle" auf dem weiteren Weg durchs Kölner Nachtleben. Foto: Matthias Jung/LVR-ILR Zwei Männer in einem Kiosk Kioskkultur ist auch Kommunikationskultur. Foto: Thomas Scheidt/LVR-ILR

Schnell hat sich das Angebot weiterentwickelt. Bier, andere Alkoholika, Zeitungen und kleine Speisen wurden sukzessive ins Sortiment aufgenommen. Die Trinkhalle wurde zum Erfolgsrezept. Betrieben wurden die Buden oftmals von Witwen der Bergleute oder Opfern von Bergbauunfällen, nach den beiden Weltkriegen auch von Kriegsinvaliden. Sie fanden in der Verkaufstätigkeit ein Auskommen, dass sie davor bewahrte, zu sozialen Härtefällen zu werden. Daher waren die Verantwortlichen in den Städten bei der Erteilung von Konzessionen großzügig, was die Verbreitung der Trinkhallen wiederum förderte.

Höhen und Tiefen in der Entwicklung folgten, die Wirtschaftswunderzeit und die Verfügbarkeit von Markenartikeln in den Buden gab der Trinkhallenkultur nochmal einen Aufschwung. Später, als Kohlekrise, Werksschließungen und eine Folge weiterer Wirtschaftskrisen einsetzten, war die Hochphase der Kioske vorbei, weil ihnen die Kundschaft wegbrach. Viele Trinkhallen mussten schließen, andere aber hielten sich durch neue Konzepte oder auch neue Betreiber, zum Beispiel Migrant*innen, die mit Unterstützung von Familienmitgliedern den Kiosk führten. Wiederholte zeitgemäße Sortimentsanpassungen – Telefonkarten oder Coffee to go – taten ein Übriges, dass sich die Kioskkultur trotz aller wirtschaftlichen Widrigkeiten und zunehmender Konkurrenz durch Tankstellen-Shops und andere Handelskonzepte immer wieder behauptet.

Was den Rheinländer*innen lieb und wichtig ist, bezeichnen sie gerne mit dem Deminutiv, der Verkleinerungsform – so wie das Büdchen eben!

Text: Gabriele Dafft