LVR-Institut für Landeskunde
und Regionalgeschichte
Logo LVR

Der erste und der zweite Blick

Eine (volkskundliche) Detektivgeschichte

Mit Fahrrad, Hut und Krawatte lässt er sich vor einer Leinwand abbilden. Besonders der unten rechts auf der Kulisse dargestellte Farn und die Andeutung von Zaun und Treppe auf der linken Seite deuten darauf hin, dass die Umgebung edel wirken soll. Auf den ersten Blick jedoch ein recht unscheinbares Foto: Ein Mann und ein Fahrrad in einem improvisierten Fotostudio im Freien. Der Abgebildete lässt keine besonderen Emotionen erkennen, seine Pose ist unaufgeregt und auch der gewählte Hintergrund ist wenig spektakulär. Würde dieses Foto in einer langen Galerie hängen, so ginge man vermutlich recht bald weiter.

schwarz-weiß-Fotografie eines Mannes mit Hut und Fahrrad schwarz-weiß-Fotografie eines Mannes mit Hut und Fahrrad

Setzt man jedoch die "Volkskundler-Brille" auf die Nase und riskiert einen zweiten Blick, so wird die Fotografie gleich um Einiges spannender – wenn wir uns nämlich fragen, welche Aufschlüsse uns dieses Bild über die Alltagskultur vergangener Zeiten geben kann. Sofort kommen Fragen auf, Fragen aus ganz verschiedenen Perspektiven:

Wer war dieser Mann? Wer hat das Foto aufgenommen und zu welchem Zweck? Wem gehörten die Gegenstände, die mit abgebildet sind (Kleidung, Fahrrad, Leinwand)? Wer hat das Motiv ausgewählt und weshalb? Wieso gibt es ein Bild, auf dem deutlich erkennbar ist, dass es sich beim Hintergrund um eine Kulisse handelt? Und so weiter. Die Aufnahme macht damit deutlich, wie viele Blickwinkel es auf historische Fotografien geben kann (und muss).


Wer war dieser Mann?

Aus dem Archiv kennen wir seinen Namen und auch den Ort, an dem das Foto aufgenommen wurde: Es ist Josef S. aus dem Kreis Ahrweiler. Es lässt sich nur sehr schwer herausfinden, was Herrn S.‘ Beruf und Familienstand war, wo und wie er genau gelebt hat. All diese Informationen sind mit demjenigen, der ihn oder seine Nachfahren noch persönlich kannte, verloren gegangen. Von seiner Persönlichkeit bleibt kaum etwas. Als Abgebildeter auf diesem historischen Foto ist er vor allem eins: Ein Repräsentant seiner Zeit.


Wer hat das Foto aufgenommen und warum?

Das Bild stammt aus der Frühzeit der populären privaten Fotografie. Im 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der ersten fotografischen Verfahren (Daguerreotypie 1839, Kollodiumverfahren 1851, Trockenplatte 1871), war es noch sehr teuer, Fotografien anzufertigen. Die Kundschaft der Hersteller von Foto-Zubehör waren vorwiegend wohlhabende, technisch interessierte Bürger. Wie bei vielen technischen Neuerungen setzte sich auch die Fotografie anschließend langsam in breiteren Bevölkerungsschichten durch und wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts sowohl für künstlerisch ambitionierte Aufnahmen als auch – nach dem Zweiten Weltkrieg – zunehmend zum "Knipsen" genutzt. Diese Fotografie stammt aus den 1930er Jahren und wurde mit großer Wahrscheinlichkeit von einem Berufsfotografen aufgenommen – die Leinwand und die Pose des Abgebildeten deuten darauf hin.


Welche Relevanz haben die Gegenstände, die mit abgebildet sind?

Auffällig sind in erster Linie zwei Aspekte: Die Kleidung des Mannes und die Tatsache, dass er sich mit einem Fahrrad ablichten lässt. Krawatte, Weste, hohe Stiefel und Hut zeigen, dass der Portraitierte sich "herausgeputzt“ hat. Dass auch das Fahrrad ebenfalls auf dem Foto zu sehen ist, deutet darauf hin, dass es einen besonderen Wert für ihn und seine Zeit gehabt haben muss. Im Zuge der ersten Fahrrad-Trendwelle Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutete ein Fahrrad unter anderem Unabhängigkeit von anderen Transportmitteln.


Wieso gibt es ein Bild, auf dem der Hintergrund als Kulisse erkennbar ist?

Dies ist nur beim ersten Nachdenken verwunderlich. Vermutlich gibt es mehrere Aufnahmen mit diesem Motiv und die oben gezeigte ist ein "Fehlversuch". Die Irritation darüber, dass hinter der Leinwand eine Fassade aus Brettern zu erkennen ist, rührt vermutlich vor allem daher, dass Fotos eine gewisse Authentizität suggerieren. Aber Fotos sind nie objektive Zeugnisse von Zuständen oder Handlungen aus der Vergangenheit, sie sind immer eine Interpretation der Realität, zeigen nur einen Ausschnitt, den der Fotograf gesehen hat, und halten nur einen Moment fest. Genauso wie wir heute mit Photoshop oder Instagram durch Bearbeitung versuchen, ein Bild mit dem gewünschten Motiv bzw. Effekt oder der gewünschten Aussage zu erzeugen, konnten schon weit früher einfache Techniken angewandt werden, um zu beeinflussen, wie ein Foto auf den Betrachter wirkt: Ein Beispiel dafür ist die als Kulisse verwendete Leinwand.

Das Beispiel zeigt, welchen Wert ein unscheinbares Foto für Volkskundler haben kann. Die Arbeit mit historischen Abbildungen ist manchmal wie ein Detektivspiel, eine knifflige Herausforderung. So ist der abgebildete Mann ein ganz besonderer Mister X: Er hat vielleicht nichts Außergewöhnliches getan, gesagt oder geschaffen. Doch gerade deshalb ist er so interessant und kann uns so viel über seine Zeit berichten.


Literatur zum Thema

Brink, Cornelia: Überlegungen zu einer fotografischen Sprache des Gedenkens. In: Jahrbuch für Volkskunde 23 (2000), S. 119-134

Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte. Frankfurt/New York 2009

nach oben