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Vom Gesangbuch zum Bücherschrank für alle
Zum bundesweiten Tag des Vorlesens am 15. November: Ein Blick auf die Bücher in unserem Archiv des Alltags im Rheinland
Ich erlebe gerade, wie meine Töchter die Welt der Buchstaben für sich entdecken und sich ihnen eine vollkommen neue Welt erschließt: Bei Einkaufen, wenn sie den Einkaufszettel lesen können und die Namen der Produkte erfasst werden. Zu Hause, wenn sie ihr Kochbuch aufschlagen und plötzlich wissen, dass drei Eier in den Pfannkuchenteig kommen und sie ihn nun selbstständig zuzubereiten können und vor allem dann, wenn sie selbst zum Bücherregal gehen und sich eines ihrer Bücher herausholen. Sie tauchen dann ab in die Welten von Einhörnern und Detektiven und sind nicht mehr darauf angewiesen, dass Mama oder Papa Zeit haben und vorlesen.
Lesen ermöglich Teilhabe und Partizipation in vielerlei Hinsicht. Wenn wir lesen können, dann können wir uns selbst ein Bild der Welt machen, können aus verschiedenen Quellen auswählen, können selber interpretieren, durchdenken und selbst urteilen. In den aktuellen, krisenbehafteten Zeiten umso wichtiger. Lesen war lange Zeit in breiten gesellschaftlichen Schichten verpönt. Wer las, war faul – so hieß es häufig bist Anfang der 1950er Jahre, als das Lesen sich als sinnvolle Freizeitbeschäftigung langsam durchsetzte.
Es wundert daher nicht, dass auch bei uns im Archiv des Alltags im Rheinland Fotos rund um das Thema Lesen eher selten zu finden sind. Zum einen sind Innenaufnahmen schon aufgrund der schwierigen Lichtverhältnisse rar, zum anderen, war Lesen gesellschaftlich lange Zeit eher höheren gesellschaftlichen Kreisen vorbehalten und von Alter und Geschlecht abhängig. Die ersten Fotografien, die wir in unserem Archiv finden, auf denen Bücher abgebildet sind, sind Kommunionsbilder – Mädchen und Jungen in Kleidchen und festlichen Anzügen, die in der Hand die Bibel oder ein Gesangbuch halten. Das Buch ist Requisite und verweist auf den Anlass und das christliche Fundament des Abgebildeten.
Vereinzelt finden wir in unseren Beständen Fotos von lesenden Herren – auch sie sind gut gekleidet und präsentieren sich als Vertreter des gebildeten Bürgertums.
Erst langsam wurde andere Literatur erschwinglicher und damit auch zugänglicher und gesellschaftlich akzeptierter und auch Frauen durften und konnten dank Schulbildung lesen. Taschenbücher und Buchklubs führten zu einer Demokratisierung des Lesens und langsam wurde Lesen in breiten gesellschaftlichen Schichten anerkannt. Bücherregale und Bücherschränke gehörten nun zur standardmäßigen Wohnzimmereinrichtung.
Während die Frauen Hausarbeiten verrichten, liest der Mann in einem Buch. Lesen unterlang lange Zeit sozialen und geschlechterspezifischen Distinktionen. Mannebach 1915. Foto: Archiv des Alltags im Rheinland/LVR (LVR_ILR_0000122682) Lesende Frauen – nur langsam war dies gesellschaftlich akzeptiert. Foto: Archiv des Alltags im Rheinland/LVR (LVR_ILR_0000568891)
Und heute? Lesen und Vorlesen ist, wie Studien immer wieder belegen, eine immer stärker zurückgehende Kompetenz. Schulen und KITAs versuchen Vieles, um das Buch wieder präsenter zu machen, suchen Vorlesepat*innen, richten Schulbibliotheken ein, die Gemeinden eröffnen offene Bücherschränke und sogar im Wald findet man mancherorts Leseoasen. Lesen und vorlesen vermittelt Wissen und Bildung, stärkt soziale Kompetenzen, fördert Empathiefähigkeit und ist ein wichtiger Baustein zur Bildung einer eigenen Identität.
Foto: Archiv des Alltags im Rheinland/LVR (20200615-330) Ein öffentlicher Bücherschrank im Wald bei Sinzig. 2024. Foto: Katrin Bauer/LVR (KB20241004-004)