LVR-Institut für Landeskunde
und Regionalgeschichte
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Kirmes auf Abstand?

Jahrmärkte in Zeiten von Corona

Fotomontage: Über einem Jahrmarkherz steht "abgesagt!" So schön könnte es sein: Wir zeigen auf dieser Seite Fotos vom Pützchens Markt 2016 Eine Frau im Kassenhäuscheneine Krimesgeschäfts, ein Kind sitzt auf ihrem Schoß Pützchens Markt 2016: Im Kartenhäuschen

„Pützchen Markt is anjesaat“ lautet eine Textzeile im populären Song „Achterbahn“ der Bläck Fööss. Doch der überregional bekannte Bonner Jahrmarkt ist dieses Jahr leider: abgesagt! Wegen der Corona-Pandemie müssen die rund eine Million Besucher*innen, die sonst ab dem zweiten Wochenende im September nach Bonn-Beuel kommen, in diesem Jahr auf viele lieb gewordene Traditionen und Gewohnheiten verzichten. Kein Adrenalinkick in der neuesten Achterbahn, keine romantische Runde im Riesenrad, kein spontanes Treffen in der Hauswirtschaft der Nachbarn. Weder Gemeinschaftserlebnisse bei der Party im Bayernzelt noch der alljährliche Besuch mit der Familie am Waffelstand sind 2020 möglich. „Es fällt uns schon schwer“, sagt eine Anwohnerin, die direkt am Marktgelände wohnt und deren Familie bereits in der vierten Generation eine Hauswirtschaft betreibt – ein Bierzelt unmittelbar vor dem Wohnhaus. Immerhin halten sie an einem kleinen Familienritual fest. Der Sauerbraten, den es sonst immer am Kirmesmontag gibt, ist schon beim Metzger bestellt. Diesmal wird man sich zum Essen, ohne dass die Kirmes vor der Haustür tobt.

Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass eine Infektionskrankheit der Veranstaltung einen Strich durch die Rechnung macht. Im Jahr 1892 wurde Pützchens Markt abgesagt, weil sich die Cholera von Hamburg bis ins Rheinland ausbreitete. Um die Bevölkerung zu schützen, sah man auch damals schon den Schutzeffekt in der Vermeidung von Menschenmassen auf Großereignissen. Geschichte wiederholt sich eben manchmal.

Schon damals hatten Schausteller Verdienstausfälle zu beklagen. Gegenwärtig summieren sich diese Ausfälle, weil im Zuge der Corona-Pandemie bereits eine ganze Reihe der rund 10 000 Volksfeste in Deutschland abgesagt wurden. Auch im Rheinland hat es zahlreiche Jahrmärkte getroffen, die Annakirmes in Düren oder die Düsseldorfer Rheinkirmes zum Beispiel sowie viele kleinere Veranstaltungen. Für die Kirmesfans ist das schlimm genug, für die Schausteller*innen von existenzieller Bedeutung. Finanziell geraten sie in Nöte und darüber hinaus gehört es zu ihrem Berufs- und Selbstverständnis herumzureisen und Freude zu verbreiten. In einem Metier nicht arbeiten zu können, in dem die Familie oftmals schon seit Generationen tätig ist, ist hart.

Ein Mann geht über den Jahrmarkt und trägt ein Paket mit Papierhandtüchern über der Schulter Arbeiten auf Pützchens Markt. Foto: Gabriele Dafft/LVR Ein Schausteller bei der Reinigung eines Kettenkarussells Pützchens Markt 2016: letzte Vorbereitungen

Alternative Konzepte: Pop-up-Freizeitparks

Weil Karussell und Imbissbude schon so lange in den Garagen stehen, versuchen immer mehr Veranstalter, zum Beispiel Städte oder Schaustellerverbände, einen Ausgleich durch alternative Konzepte zu schaffen. Temporäre Vergnügungsparks, sogenannte „Pop-Up-Freizeitparks“, entstehen in umzäunten oder überdachten Arealen und sind zeitlich befristet. Wie etwa das „Dürener Sommer Special“, das für sechs Wochen auf einem Teil des traditionellen Platzes der Annakirmes errichtet wurde. Natürlich gelten bei solchen Konzepten besondere Regelungen: kontrollierter Einlass, beschränkte Besucherzahlen, Masken- und Abstandspflicht, mitunter auch Einbahnstraßen für die Besucher*innen. Auch im Bonner Ortsteil Pützchen gibt es derzeit eine Alternative für Kirmesfans, den Historischen Jahrmarkt in einer Halle. Er ist keine Corona-Neuerung, sondern sollte im März zum vierten Mal seine Tore öffnen. Eigentlich. Auch er musste kurzfristig abgesagt werden und wird nun - mit angepasstem Hygienekonzept – nachgeholt.

Weitere Alternativen sind vereinzelte Kirmesbuden und kleine Karussells, die über mehrere Standorte der Innenstädte verteilt sind. Kirmes auf Abstand – das ist natürlich nicht dasselbe wie ein Traditionsjahrmarkt. Zum Bummel über den Rummel gehört schließlich die überbordende Fülle des Angebots genauso wie die vielfältigen, sich überlagernden Sinneseindrücke. Eine Gemengelage aus trudelnden Fahrgeschäften, Gerüchen und Geräuschen, Lichtern und Glanz und eben auch aus dem Geschiebe und Gedränge in den Budengassen. Die Pützchens Markt-Fans werden nicht nur diese Atmosphäre vermissen, sondern vor allem auch das gute Zusammenspiel von Anwohnerschaft, Schausteller*innen, Ordnungsamt, lokalen Vereinen und den Pfarrgemeinden, das für ein vielfältiges Programm zwischen Festumzug und Abschlussfeuerwerk sorgt. Diese offiziellen Rituale strukturieren die Großkirmes und bedienen unterschiedlichste Bedürfnisse. Darüber hinaus haben vielen Menschen über Jahre ihre ganz persönlichen Rituale und Routinen entwickelt, um sich den Jahrmarkt vertraut und überschaubar zu machen.Pützchens Markt ist eben nicht nur identitätsstiftendes Fest in der Region, sondern auch Erinnerungsort für Generationen. Hier erleben Eltern und Goßeltern mit ihren Kindern und Enkelkindern, wovon sie selbst fasziniert waren, als sie klein waren.

Ein Mann und ein Junge vor einem Greifautomaten mit Plüschfiguren Pützchens Markt 2016: Am Greifautomaten Drei Frauen sehen sich Tischdecken an einem Verkaufsstand an Pluutenmarkt auf Pützchens Markt 2016

Den Reiz der Kirmes aber macht aus, dass man nicht nur Vertrautes entdeckt, sondern gleichzeitig auch die neuesten Attraktionen. Die Erlebnisvielfalt inmitten zuweilen abenteuerlicher Kulissen bietet eine schillernde Auszeit vom Alltag, aus der sich jeder aussuchen kann, was er mag. Diese Auszeit kann durchaus ein Ventil für das oftmals durchorganisierte, entemotionalisierte alltägliche Leben sein. Sie strukturiert das Jahr, bietet Abwechslung und stiftet Gemeinschaft. Das alles bricht in diesem Jahr ein Stück weit weg. Kein Wunder also, dass alternative oder neue Formen so gefragt sind.

Text: Gabriele Dafft
Fotos: Matthias Jung (wenn nicht anders angegeben)

Filmdokumentationen über Pützchens Markt

Wer in die Kirmesatmosphäre eintauchen möchte, kann sich unsere Filmdokumentation „Auszeit in Pützchen. Der Jahrmarkt vor der Haustür“ (2017) anschauen.

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Wer in die jüngere Geschichte von Pützchens Markt und Adelheidisverehrung blicken möchte, wird in drei Filmen unseres LVR- Instituts aus den 1970er Jahren fündig.

Filmdokumentation: Die Verehrung der Heiligen Adelheid (1977)

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Filmdokumentation: Taufen, Segnungen, Ehrungen auf dem Festplatz (1976)

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Filmdokumentation: Schaustellerbräuche am letzten Tag (1976)

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