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probierte/(hat) probiert
Zwei Zeitformen der Vergangenheit werden behandelt: Präteritum und Perfekt. Präteritumformen im Deutschen sind (er) probierte, machte, kam oder sang, die Perfektformen lauten (er) hat probiert, hat gemacht, ist gekommen oder hat gesungen. Präteritumformen von 'probieren' heißen im Rheinland zum Beispiel (er) probeerde, probeerte, proberet, probierne, proberet oder probierden/probierdene (in ihren verschiedenen Lautformen), im Perfekt: (er hat) probeert sowie probiert (ebenfalls in unterschiedlichen Lautformen).
Grundlage der abgebildeten Sprachkarte ist eine Erhebung des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte (ILR) aus den Jahren 2017/2018. Die Gewährspersonen wurden gebeten, sowohl die Grundform des Verbs 'probieren' in ihren Dialekt zu übersetzen, als auch die Form 'er probierte', versehen mit dem Zusatz "Vergangenheit", in der Mundart anzugeben. Jedem Ort auf der Karte, aus dem ein oder mehrere Fragebogen beim ILR eingingen, entspricht ein Symbol. Gaben Gewährspersonen eine Präteritumform an, so erhielt der jeweilige Ort ein blaues Symbol. Wurde hingegen keine Form im Präteritum, wohl aber ein Perfektbeleg angegeben, wurde der Ort orange eingezeichnet.
Am unteren Niederrhein meldeten die Gewährspersonen linksrheinisch sehr häufig das Präteritum. Die Formen lauteten in Kranenburg hej probierde und in Emmerich hej probierde, in Kevelaer dann hen probierde und Krefeld probierde, in Viersen hä probieret und in Niederkrüchten-Elmpt schließlich hea probeeret. Der Süden des rheinischen Erhebungsgebietes hingegen wird von Perfektformen eingenommen. Das Perfekt-Gebiet erstreckt sich von Monschau (hä hat probiert), Dahlem (ich ha probiert) und Blankenheim-Dollendorf (hä hätt probeert) bis nach Aachen-Burtscheid (heä hat probiert), Jüchen (hä het probeert), Düsseldorf-Itter (he hät probiert) sowie Wermelskirchen-Dhünn (ich han probiert).
Von großer Varianz geprägt ist im Linksrheinischen ein Gebiet dazwischen, das sich über weite Strecken mit dem Südniederfränkischen deckt, dem Sprachgebiet zwischen der Benrather und der Uerdinger Linie, – neben Angaben des Präteritums finden sich hier auch zahlreiche Orte, für die nur das Perfekt angegeben wurde.
Das Präteritum meldeten Gewährspersonen auch im Südosten des Rheinlands, an der Grenze zu Westfalen. Nennungen gibt es hier für Mülheim/Ruhr-Saarn (he probierden), Solingen (he probierden), Remscheid (he probierden), Wipperfürth (hä probierte), Reichshof-Heischeid (hä probierte) sowie Morsbach (ech probiiede). Auch entlang der westlichen Grenze, bei Aachen (heij probieret, hä probeerte, heä probierde), im Raum Eschweiler (er probierdene) oder in Stolberg-Zweifall (ich proberde), gaben die Gewährspersonen wiederum das Präteritum an.
Im Deutschen, besonders im mündlichen Sprachgebrauch, stehen beide Zeitformen in Konkurrenz zueinander. Dabei ist zu beobachten, dass die Verwendung des Präteritums zugunsten des Perfekts abnimmt. Die Gründe für diesen sogenannten Präteritumschwund sind vielfältig und wirken zusammen. Zusätzlich hat sich das Perfekt in seiner Bedeutung und seinem Gebrauch ausgeweitet: Mithilfe des Perfekts kann nicht nur auf Vergangenes, das in der Gegenwart noch Bedeutung hat, Bezug genommen, sondern auch in der Vergangenheit Abgeschlossenes ausgedrückt werden. Es wird so immer häufiger in Kontexten verwendet, die ehemals allein durch das Präteritum ausgedrückt werden konnten.
Interessant an diesem Wandel ist, dass nicht alle Verben in gleichem Maße betroffen sind. Bei schwachen Verben tendieren Sprecher häufiger als bei starken Verben zur Bildung des Perfekts.
"Schwache" Verben sind die, die im Hochdeutschen die Vergangenheitsformen mit -t bilden: probieren – probierte – hat probiert; machen – machte – hat gemacht. "Starke" Verben bilden die Vergangenheitsformen mit Hilfe eines Vokalwechsels: kommen – kam – ist gekommen; singen – sang – hat gesungen. Das rheinländische Verb proberen/probieren hat also schwach gebildete Vergangenheitsformen.
In einer 2016 erschienenen Dissertation zum Präteritumabbau wird eine klare Nord-Süd-Staffelung im deutschen Sprachgebeit konstatiert; dort heißt es zusammenfassend (Fischer 2016, S. 389 und 391): "Je nördlicher innerhalb des Übergangsgebiets ein Dialektraum liegt, desto mehr Verben dieses Dialekts bilden Präteritumformen."
"Je nördlicher ein Dialektraum liegt, desto höher ist die Gebrauchsfrequenz von Präteritumformen."
"Der verbweise Abbau geschieht geregelt und lässt sich anhand einer Reihe von Faktoren beschreiben."
Bei der ILR-Erhebung 2017/2018 waren die Gewährspersonen gebeten worden, die "Vergangenheit" von 'probieren' zu bilden. Der Norden des Rheinlands tat sich dabei mit dem Präteritum ('er probierte' war vorgegeben) leichter als der Süden. Im Süden wurde vielfach auf die Perfektform ausgewichen. Auch wenn damit noch nichts über die Gebrauchsfrequenzen, also über die tatsächliche Verwendung im Sprachalltag, in Erfahrung gebracht worden ist: Dass im Rheinland eine deutliche Nord-Süd-Staffelung bei den Präteritumformen von 'probieren' (und wohl auch bei anderen schwachen Verben) bestehen dürfte, legt die hier präsentierte Karte zweifellos nahe.
Die Grammatikkarte probeerde/(hat) probeert basiert auf derselben Frage des ILR-Fragebogens 11 wie die Lautkarte probieren/proberen, die dem Gegensatz zwischen den beiden Gegenwartsformen gewidmet ist.
Sarah Puckert
Literatur:
- Hanna Fischer: Präteritumschwund in den Dialekten Hessens. Eine Neuvermessung der Präteritalgrenze(n). In: Michael Elmentaler/Markus Hundt/Jürgen E. Schmidt (Hrsg.): Deutsche Dialekte. Konzepte, Probleme, Handlungsfelder. Akten des 4. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD). (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 158). Stuttgart 2015, S. 107-133.
- Hanna Fischer: Präteritum/Perfekt-Distribution. In: Syhd-Atlas. [URL: http://syhd.info/apps/atlas/#praeteritumperfekt-distribution].
- Hanna Fischer: Präteritumschwund im Deutschen. Dokumentation und Erklärung eines Verdrängungsprozesses. (Studia Linguistica Germanica, 132). Berlin/Boston 2016.
- Werner König/Stephan Elspaß/Robert Möller: dtv-Atlas Deutsche Sprache. Mit 155 Abbildungsseiten in Farbe. Grafiker Hans-Joachim Paul. 18., durchgesehene und korrigierte Auflage. München 2015.
- Damaris Nübling/Antje Dammel/Janet Duke/Renata Szczepaniak: Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. 5., aktualisierte Auflage. Tübingen 2017.
- Rheinisches Wörterbuch. […] hrsg. und bearb. von Josef Müller u. a. Bonn, Berlin 1928-1971. [URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=RhWB&mode=Vernetzung&lemid=RP07274#XRP07284].
- Viktor Schirmunski: Deutsche Mundartkunde. Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten. (Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur, 25). Berlin 1962.
- Pavel Trost: Präteritumsverfall und Präteritumsschwund im Deutschen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 47, 1980, S. 184-188.